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Client Name Five

Ein Wagnis zu viel

1938

Es ist kurz vor 11:35 Uhr. Der Messwagen meldet zunehmende Böigkeit. Die Windstärke ist noch moderat, aber die Richtung schwankt – ungünstig für jeden Stromlinienwagen, fatal für den Auto Union.
Trotzdem kehrt Rosemeyer zurück zum Startpunkt. Er will den Rekord. Er will eine Leistung zeigen, die bereits am Vortag als unmöglich galt.

Dieser Moment ist historisch, technisch und menschlich zugleich.

Die Waldschneise bei Mörfelden, bei Kilometer 9 der heutigen A5 zwischen Frankfurt und Darmstadt, bildet eine Art aerodynamischen Übergang. Davor: Winddämpfung durch Bäume. Bei Kilometer 9: plötzlicher Verlust der Abschirmung Dahinter: erneuter Seitenwindaufbau.

Der Effekt ist ein Wechsel der seitlichen Anströmwinkel in Millisekunden.

Der lange, vollverkleidete Auto Union neigt dazu, bei Seitenwind den Druckpunkt nach hinten zu verlagern, das Heck nach außen zu schieben und so eine sehr abrupte Gierbewegung einzuleiten, die schwer kontrollierbar ist

Bei 430 km/h legt der Wagen 119 Meter pro Sekunde zurück. Eine Böe wirkt 0,05 bis 0,1 Sekunden. Bei einem plötzlichen Windeinfluss bleibt dem Fahrer als ein Lenkkorrekturfenster von unter 0,3 Sekunden.
Rosemeyers Fahrstil ist dafür wie geschaffen – aber auch er hat Grenzen.

Der Blondschopf sitzt im Cockpit. Sein Gesicht ist gezeichnet von einer Mischung aus höchster Anspannung und gleichzeitig grimmiger Entschlossenheit. Er ist, würde man heute sagen, längst „in the zone“ – eingetaucht in seine eigene Welt aus Konzentration und ruhiger Vorbereitung.

Die Instrumente vor ihm zittern leicht. Die Mechaniker haben ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt – ein Zeichen latenter Anspannung.

Der Motor startet. Das tiefe Dröhnen legt sich über die Strecke.

Rosemeyer legt den Gang ein, bewegt den Wagen vor. Die Zuschauer an der Messstelle spähen in die Ferne. Die Strecke ist frei. Der letzte Lauf beginnt.

Phase 1 ist die rasante Beschleunigung aus dem Stand auf Tempo 350. Alles verläuft normal. Der Wagen zieht sauber durch. Die Luft ist klar, trocken.

In Phase 2 geht alles langsamer. Der Bolide arbeitet sich auf seine absolute Höchstgeschwindigkeit hin. Angepeilt und für realistisch befunden sind 430 Sachen.

Hier beginnt der kritische Bereich. Minimale Seitenkraft reicht für spürbare Heckversätze. Der Kompressor liefert maximale Leistung. Das bedingt leichte Lastwechselreaktionen. Und die Strömung am Heidekraut neben der Autobahn zeigt unregelmäßige Muster – ein alarmierendes Zeichen für mindestens unregelmäßige Seitenwindböen, vielleicht sogar eine Ankündigung für umlaufende Wind.

Die Messstelle erfasst Rosemeyers letzte offizielle Zwischenzeit: Ungefähr 430 km/h. Er liegt damit exakt im Bereich, der nötig wäre, um Caracciolas Rekord zu attackieren.

Mit diesem Tempo rauscht er in die Waldschneise.

Dies ist der Moment, den spätere Gutachten als „unbeherrschbare Störimpulsböe“ klassifizieren. Die Bäume enden abrupt. Der Luftdruck fällt schlagartig. Die Seitenströmung trifft den Wagen nicht mehr gedämpft, sondern roh, direkt, impulsartig.

Für einen Mittelmotorsportwagen mit weit nach hinten gezogenem Strömungsvolumen ist das eine kritische Situation: Sein Druckpunkt wandert seitlich, das Giermoment steigt exponentiell, die Lenkkorrektur wirkt verzögert. Bei 430 km/h wirken nur zwei Lenkwinkel schon wie 15 Grad bei 200 km/h.

Eine Böe trifft die linke Seite des Wagens. Der Stromlinienkörper erzeugt eine Art Seitenschlagflügeleffekt. Der Wagen versetzt schlagartig minimal nach rechts. Rosemeyer reagiert reflexartig, lenkt leicht gegen.
Damit geschieht Folgendes: Der Luftstrom trennt sich am Heck ab, der Coanda-Effekt der Karosserie ist unterbrochen. Die Strömung wird turbulent. Der Unterdruck steigt schlagartig. Das Heck zieht nach links. Der Wagen beginnt eine Gierrotation. Binnen weniger als einer halben Sekunde geht der Auto Union in eine instabile Drehbewegung über.

Bei Kilometer 9,2 weitet sich der Unfall in ein Desaster. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Das Fahrzeug hebt leicht ab. Die Karosserie reißt durch Scherkräfte in mehrere Teile. Der Motorblock trennt sich vom Wagen. Rosemeyer wird aus dem Fahrzeug geschleudert, sein Körper schlägt bei Kilometer 9,2 neben der Fahrbahn auf.

Bernd Rosemeyer ist sofort tot.

Es ist 11:38 Uhr.

Mercedes bricht alle Versuche ab. Auto Union schweigt. Techniker knien im Schnee neben dem reglosen Körper. Keiner spricht.

Ein Arzt stellt fest, was alle sehen: Es gibt keine Überlebenschance. Nicht bei dieser Geschwindigkeit, nicht bei dieser Ausrüstung.

Sicherheitsgurte gibt es nicht. Helme schützen kaum, sie sind Staubkappen, aber keine Protektoren. Fahrerschutzstrukturen existieren nicht.

Es ist das Ende eines Rekordtages – und das Ende einer Ära.

Die folgenden Wochen und Monate liefern mehrere Analysen. Jede spätere Untersuchung bestätigt: Der Wind ist das zentrale Element. Nicht ein technischer Defekt.

Der Mittelmotorsportwagen ist strömungstechnisch komplex: Er lässt seinem Fahrer keine fahrdynamische Reserve im Grenzbereich.

Rosemeyer ist einer, der den Grenzbereich nicht scheut, sondern sucht. Sein fahrerisches Talent kompensiert vieles – aber nicht eine instabile Strömung bei 430 km/h.

Heute würde man in physikalischen Fachbegriffen sprechen, ein Ingenieursfachchinesisch über „Störimpuls“, „Giermomenterhöhung“, „Strömungsabriss am Heck“ und eine „aerodynamische Übersteuerung“. 1938 gibt es dafür noch keine Sprache. Nur Bilder. Und Konsequenzen. Rosemeyers Tod beendet die Rekordjagden auf öffentlichen Straßen ebenso wie die Phase der experimentellen Stromlinienungetüme und die unkontrollierte physikalische Hochrisikoforschung ohne Schutzstrukturen.

Was bleibt, ist die Erkenntnis: Diese letzte Fahrt war nicht Wahnsinn. Sie war ein wissenschaftlicher Grenztest – bezahlt mit dem höchstmöglichen menschlichen Preis.

Und sie markiert den Moment, an dem die Aerodynamik der Automobile endgültig ins Zeitalter der Präzisionswissenschaft eintritt.

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