Die Rosemeyers

Der Rekordwahn beginnt
28.2.23, 22:00
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Es ist Ende Oktober 1937. Der Morgen über der Reichsautobahn Frankfurt–Darmstadt ist kühl, der Dunst hängt knapp über dem Asphalt. Normalerweise rauschen hier Lastwagen und Limousinen vorbei. Heute ist die Straße leer. Sperrketten und Uniformen markieren: Dies ist kein Verkehrsweg mehr, dies ist eine Versuchsbahn.
Am Rand der Fahrbahn stehen provisorische Holzbauten, Zeitnahmehütten, kleine Tribünen für Funktionäre und geladene Gäste. Ein paar Journalisten trinken mit kalten Fingern ihren Kaffee, die Stoppuhren um den Hals, Notizblock in der Manteltasche. Auf der Geraden, weit entfernt, schimmern Aluminiumkörper im ersten Licht: die Silberpfeile von Auto Union und Mercedes-Benz.
Die Oberste Nationale Sportbehörde ruft zur „Internationalen Rekordwoche“. Offiziell ist das ein sportlicher Wettbewerb. In Wahrheit ist es ein Schaulaufen deutscher Technik – und ein Schaukampf zwischen zwei Werken: Auto Union aus Zwickau gegen Mercedes-Benz aus Stuttgart.
Die Kulisse passt perfekt zur politischen Dramaturgie: Rekorde auf der „Reichsautobahn“, dem Prestigeprojekt des Regimes. Wer hier am schnellsten ist, demonstriert nicht nur Ingenieurskunst, sondern auch vermeintliche Überlegenheit des Systems. Das wissen alle Beteiligten. Es sagt nur kaum jemand laut.
Die Hauptdarsteller
In der einen Ecke: Auto Union. Drei stromlinienverkleidete Typ-C-Rennwagen mit Mittelmotor, die V16-Maschine direkt hinter dem Rücken des Fahrers. Im Mittelpunkt: Bernd Rosemeyer, jung, furchtlos, Europameister von 1936, Idol der Fans.
In der anderen Ecke: Mercedes-Benz. Ein gewaltiger Rekordwagen auf Basis des Grand-Prix-W 125, jetzt mit einem V12-Kompressormotor unter einer geschlossenen Stromlinienhaube. Am Steuer: Rudolf Caracciola, präzise, abgeklärt, frisch gekrönter Grand-Prix-Europameister.
Beide Werke wissen: Was in dieser Woche passiert, schreibt sich in die Geschichte ein – oder eben nicht.
Morgens auf der Autobahn
Jeder Tag beginnt gleich: Sehr früh, wenn die Kälte noch im Beton steckt, rollt der erste Wagen langsam über die Strecke. Funktionäre prüfen den Belag, Mechaniker schauen nach Schmutz, Ölspuren, kleinen Schäden. Noch wichtiger ist der Wind. Seitenböen sind der unsichtbare Gegner. Auf offenen Feldern neben der Autobahn zerren sie an jedem Wagen – bei 400 km/h genügt eine einzige Böe, um das ganze Projekt in Sekunden zu gefährden.
Wenn die ONS-Kommissare zufrieden sind, gehen die Wagen auf die ersten Aufwärmfahrt. Kein Spektakel: mittleres Tempo, bremsen, beschleunigen, prüfen, ob alles stimmt. Das Dröhnen der Kompressoren hallt zwischen den Böschungen wider, ansonsten ist es unheimlich still.
Auto Union nutzt die Woche systematisch. Die Zwickauer kommen vorbereitet: Die stromlinienverkleideten Typ C sind erprobt, die Motoren abgestimmt, die Abläufe geübt. Rosemeyers Wagen steht im Mittelpunkt. Mechaniker kümmern sich um jedes Detail: Zündkerzen, Kompressorräder, Reifendruck – alles zielt darauf, ein paar Sekunden absolute Höchstleistung herauszupressen.
Wenn Rosemeyer zum Rekordversuch startet, wirkt alles fast beiläufig. Er sitzt tief im schmalen Cockpit, die kleine Windschutzscheibe vor sich, der Rücken lehnt praktisch an der V16-Maschine. Der Motor springt an, der Kompressor pfeift, der Wagen rollt an, dann beschleunigt er bei noch moderaten Drehzahlen die Zufahrten hinunter auf die freie Autobahn.
Die Zeitnehmer warten im Messhaus. Vor ihnen liegt die Strecke: mehrere Kilometer Anlauf, dann der markierte Abschnitt für den fliegenden Kilometer oder die Meile, dann der Auslauf. Der Reglementsatz ist klar: Der Rekord gilt nur, wenn der Wagen die Strecke zweimal fährt – hin und zurück – und der Mittelwert die alte Bestmarke übertrifft.
In einer dieser Sitzungen – die genaue Uhrzeit verschwimmt im Protokoll, der Tag liegt zwischen dem 25. und 26. Oktober – tritt Rosemeyer an, um über den fliegenden Kilometer alles zu riskieren.
Er geht in den höchsten Gang, lange bevor die Messstrecke beginnt. Der V16 hängt hart am Gas, der Kompressor schiebt brutal. Im Cockpit steigt die Drehzahl Richtung 5000 U/min, der Punkt, an dem die Maschine ihre volle Leistung entfaltet. Die Autobahn wirkt jetzt wie ein Tunnel, auch ohne Wände: Böschungen links und rechts, der Blick fixiert die Mitte der Spur.
Der Wagen rennt. 300, 350, 380 km/h – Zahlen, die die Zeitnehmer nur aus dem Übersetzungsdiagramm kennen. Ab einem gewissen Tempo ist alles nur noch Gefühl: Wie stark ist der Seitenwind? Wie ruhig liegt das Auto? Jede kleine Lenkbewegung hat riesige Folgen. Die Pendelachse hinten arbeitet, das Auto will sich bei lastwechselnden Kräften aufrichten, die schmalen Hochgeschwindigkeitsreifen krallen sich in den Beton.
Dann schießt der Wagen in den Messabschnitt. Die elektrische Zeitnahme wird ausgelöst, die Köpfe der Offiziellen fahren hoch. Sekundenbruchteile später verschwindet die silberne Silhouette wieder in der Ferne.
Noch ist nichts entschieden. Der Gegenlauf steht aus.
Rosemeyer kehrt am Ende des Auslaufs, wendet, beschleunigt erneut. Motor, Mensch und Maschine bewegen sich an ihrer Grenze – nicht über Minuten, aber über jene wenigen Sekunden, in denen alles passen muss. Wieder rast der Auto Union durch die Messstrecke, wieder starren alle auf die Anzeige.
Als die Rechenprotokolle fertig sind, geht ein Murmeln durch die Hütte: Der Mittelwert liegt über 400 km/h. Am Ende verdichtet sich die Angabe: 406,32 km/h über den fliegenden Kilometer. Auf einer öffentlichen Straße. Ein Mensch durchbricht zum ersten Mal diese Grenze.
Rosemeyer steigt aus. Er wirkt erschöpft, aber auch elektrisiert. Die Mechaniker klopfen ihm auf die Schulter, Funktionäre geben Hände, Reporter schreiben Zahlen in ihre Blöcke, fügen Ausrufezeichen hinzu.
Die Woche ist damit nicht vorbei. Auto Union nutzt den Schwung. Weitere Läufe folgen: andere Distanzen, andere Klassen. Die Autos schießen über die Autobahn, immer wieder, manchmal mit geringerer Geschwindigkeit, manchmal mit ähnlichem Tempo. Der Körper des Fahrers reagiert: Nach einigen Serien sitzt Rosemeyer benommen im Cockpit, muss sich sammeln, bevor er aussteigt. Die Beschleunigung, die Vibrationen, die Konzentration – alles fordert seinen Preis.
Manche Versuche verlaufen dramatisch: Seitenwind drückt den Wagen ins Gras neben der Strecke, ohne dass es zum Unfall kommt. Einmal versagt die Zeitmessung, der Lauf zählt nicht, und der Fahrer muss erneut raus. Die Rekordjagd ist keine sterile Zahlenspielerei, sie ist körperliche Arbeit am Limit.
Mercedes – das Ringen mit der Aerodynamik
Währenddessen ringt Mercedes-Benz mit dem eigenen Konzept. Der W 125 Rekordwagen imponiert: Die geschlossene Stromlinienkarosserie spannt sich wie ein tropfenförmiges Gehäuse über Fahrwerk und V12. Unter der Haube steckt mehr Leistung als bei Auto Union, doch die Kraft allein reicht nicht.
In den Probeläufen näheren sich die Stuttgarter den magischen 400 km/h. Doch die Fahrer und Ingenieure bemerken ein anderes Phänomen: Bei sehr hoher Geschwindigkeit fühlt sich der Vorderwagen leicht an, als wolle er abheben. Der Luftstrom erzeugt Auftrieb, die Lenkung verliert an Gefühl. Für einen offiziellen Rekord, für einen Lauf, bei dem alles auf dem Spiel steht, ist das zu gefährlich.
Die Mercedes-Ingenieure analysieren, diskutieren, messen. Das Eiskühlungssystem, das die Kühlluftöffnungen praktisch überflüssig macht, ist zwar ein aerodynamischer Fortschritt, aber die Gesamtkonfiguration passt noch nicht. Die De-Dion-Hinterachse gibt dem Wagen Stabilität, trotzdem bleibt die Front kritisch.
Am Ende dieser Woche bleibt Mercedes hinter den Erwartungen zurück. Es gelingen schnelle Fahrten, beeindruckende Zahlen, aber kein Schlag, der Auto Union den 400-km/h-Triumph nimmt. Die Öffentlichkeit bekommt das nur teilweise mit. Die Werksingenieure aber wissen: Hier ist noch Arbeit zu tun.
Zwischen den Läufen wirkt die Autobahn fast wieder leer. Nur gelegentlich hören die Journalisten ein kurzes Aufheulen eines Motors, sehen sie, wie ein Wagen im niedrigen Tempo in die Boxen zurückrollt. Dann wieder bricht ein Lauf los, der Sound des Kompressors baut sich auf, der Wagen schießt vorbei – und Minuten später liegen neue Zahlen auf dem Tisch.
Auf den Tribünen sitzen Vertreter von Partei und Staat, in Mäntel gehüllt, erkennen im Breitenspektrum der Geschehnisse vor allem eines: Bilder, die man propagandistisch verwerten kann. Der Mann im Silberpfeil, die Reichsautobahn, die neuen Rekorde.
Doch in der Nähe der Wagen herrschen andere Prioritäten. Mechaniker wechseln Zündkerzen und Reifen, Ingenieure beugen sich über Daten und Diagramme, Fahrer tauschen knappe Sätze aus: „Wie lag er?“, „Wie war der Wind?“. Jeder weiß, dass Fehler hier nicht nur gestoppte Uhren, sondern zerstörte Autos und verletzte Menschen bedeuten.
Als die Rekordwoche endet, steht das Ergebnis fest: Auto Union setzt mit Rosemeyer die Schlagzeilen. Mehrere Welt- und Klassenrekorde, der Durchstoß durch die 400-km/h-Marke, eine Serie spektakulärer Fahrten. Mercedes reist mit vielen Erkenntnissen, aber ohne den großen Rekord ab.
Die Autobahn wird wieder für den Verkehr freigegeben. Die Schilder und Sperren verschwinden, die provisorischen Bauten werden abgebaut. Nur die Geschichten bleiben – und die Zahlen in den Tabellen der Sportbehörden.
Was die Beteiligten noch nicht wissen: Die Strecke wird wenige Monate später wieder zur Bühne. Am 28. Januar 1938 jagt Caracciola denselben Abschnitt mit über 430 km/h entlang. Am gleichen Tag verunglückt Rosemeyer in einem Auto Union-Rekordwagen tödlich, ebenfalls hier. Die Rekordwoche im Herbst 1937 wirkt im Rückblick wie der brillante, gefährliche Prolog zu diesem letzten, tragischen Kapitel.

The Italian Job
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