Die Rosemeyers

Client Name Three
Vorn in the USA
2023
Der Atlantik liegt an diesem Morgen glatt wie ein gebügeltes Leinen, als die Bremen den grauen Dunst vor Bremerhaven hinter sich lässt. An Deck steht ein junger Mann mit wachem Blick, der den Wind so liest, wie andere Leute die Schlagzeilen. Bernd Rosemeyer, 28 Jahre alt, Deutschlands schnellstes Aushängeschild, und neben ihm Elly Beinhorn, Fliegerin, Weltreisende, Frau mit Rückgrat. Beide lehnen über der Reling, als würde dort schon ein neuer Kontinent beginnen.
Die Reise ist kaum sechs Stunden alt, da wird in der Lounge schon geflüstert. Rennfahrer. Silberpfeile. Amerika. Ein bisschen Glamour, ein bisschen Gefahr, und ein ganzes Deck voller Menschen, die sich gern von Geschichten tragen lassen. Rosemeyer lächelt höflich, zieht den Hut ein wenig tiefer in die Stirn. Er mag Menschen, aber noch lieber mag er Ruhe. Allerdings: Auf einem Schiff wie der Bremen ist die Anonymität so schwer zu finden wie Windstille in einem Gewitter.
Die Bremen ist ein fahrendes Grandhotel. Schwimmbad, Kino, Gymnastikraum, auf dem Sonnendeck eine Tanzfläche unter freiem Himmel. Die Rennfahrer sind sofort die Attraktion – Rosemeyer, Caracciola, Seaman, die deutschen Mechaniker, die Ingenieure mit dem typischen, leicht öligen Geruch an den Händen. Bei den abendlichen Bällen spielt die Bordkapelle Foxtrott, Caracciola tanzt überraschend anmutig, Rosemeyer überraschend ungeschickt. Elly lacht. Das Leben scheint für einen Moment nur auf der glänzenden Holzplanke des Decks stattzufinden.
Doch während sich die Passagiere in Liegestühlen sonnen, steht tief unten im Bauch des Dampfers das wahre Herz der Mission: zwei Auto-Union-Rennwagen, sorgfältig verzurrt, schimmernd wie metallene Raubtiere im Winterschlaf. Der Typ C, Heckmotor, über 500 PS – im Europa des Jahres 1937 ist so etwas nahe am Unerhörten.
Zwischendurch sitzen die Fahrer mit dem Auto-Union-Arzt Dr. Feuereisen zusammen. Sie spielen Billard und reden über Strecken, über Benzinmischungen, über Getriebeübersetzungen. Doch je näher die Bremen Amerika kommt, desto öfter schweift Rosemeyers Blick hinaus aufs Meer, als könnte er dort bereits Long Island erkennen. Ein Rennen auf einem Kontinent, der sich selbst erst noch an die neuen Monoposto gewöhnen muss – das reizt ihn. Und es verunsichert ihn auch.
Am sechsten Tag der Überfahrt taucht im Morgengrauen die Skyline von Manhattan auf – wie eine Kulisse aus einer Zukunft, die der alte Kontinent erst noch begreifen muss. Dicke Nebelbänke hängen über dem Hafen, als die Bremen an Long Island vorbeizieht. Kurz darauf entern Reporter das Schiff, Kameras klicken, Mikrofone werden gereicht.
Rosemeyer und Beinhorn stehen im Mittelpunkt, obwohl Caracciola der Weltmeister ist. Vielleicht liegt es an Rosemeyers jungenhaftem Gesicht, vielleicht an seiner Aura zwischen Bauernjunge und Himmelsstürmer. Amerika liebt solche Männer.
Während die Journalisten noch Zitate suchen, schwenkt ein Kran die Auto-Union-Boliden aus dem Bauch des Schiffes. Die amerikanischen Arbeiter starren ehrfürchtig auf die langen, flachen Silberkörper der Rennwagen. Viele von ihnen haben noch nie ein europäisches Grand-Prix-Auto gesehen. „Let’s go to the track,“ sagt Rosemeyer plötzlich zu Feuereisen und von Delius. Noch in derselben Stunde sitzen sie im Auto Richtung Roosevelt Raceway.
Die Strecke wirkt wie ein missverständlicher Versuch, europäische Etikette auf amerikanischen Boden zu übertragen – eine künstlich angelegte Asphaltbahn auf einem Feld, von Holzplanken gesäumt, eng, winkelig, ohne Rhythmus. Nichts an dieser Piste passt zu den langen, brutalen 16-Zylinder-Pfeilen aus Zwickau und Stuttgart.
Rosemeyer steht neben seinem Wagen, die Hände in die Hüften gestemmt. Er sieht die blinden Ecken, die harten Bremspunkte, die fehlenden Überholmöglichkeiten. Sein Blick wird schmaler. Er hat selten Zweifel, aber heute hat er welche. „Das wird schwer“, murmelt er.
Feuereisen nickt nur: „Sehr schwer.“
Zur gleichen Zeit trifft ein anderer Europäer in New York ein: Tazio Nuvolari, die italienische Legende. Unterwegs hat ihn die Nachricht erreicht, dass sein Sohn gestorben ist. Er wirkt wie ein Mann, der gegen unsichtbare Stürme ankämpft, und seine Augen erzählen von einem Schmerz, der tiefer geht als jede Streckenanalyse.
Am Ende trägt die Meldeliste die klingendsten Namen Europas:
Auto Union: Rosemeyer, von Delius
Mercedes-Benz: Caracciola, Seaman
Scuderia Ferrari / Alfa Romeo: Nuvolari, Farina
Amerikaner: Rex Mays, Billy Winn, Lou Moore, Mauri Rose
Es ist ein Feld, das jedes europäische Grand Prix-Publikum elektrisieren würde. Doch auf Long Island stehen die Zuschauer oft ratlos am Zaun. Die Autos sehen aus wie Maschinen aus einer anderen Welt. Die Europäer gehen wie fremde Aristokraten über den Platz, exzellent gekleidet, von Mechanikertrupps umgeben, die wie Chirurgen agieren.
Für die Amerikaner ist das ein Spektakel – aber kein vertrautes.
Beim Qualifying fahren die Piloten zehn Runden gegen die Uhr. Dreimal dürfen sie antreten. Caracciola ist der Schnellste. Rosemeyer nur eine Handbreit dahinter.
Rex Mays verblüfft mit seinem Alfa Romeo die gesamte Ferrari-Delegation. Und im Mercedes-Lager hatte man den Kompressor überarbeitet; das Heulen ist verschwunden, die Probleme kommen nun von innen.
Nuvolari wirkt fahrerisch brillant wie immer, aber sein Blick schweift oft ins Leere. Er fährt, als wolle er dem Schmerz davonrennen.
Das Rennen soll am 3. Juli starten, doch ein Unwetter zerrupft die Pläne. Erst zwei Tage später, am 5. Juli, stehen 80.000 Zuschauer an der Strecke – erwartungsvoll, neugierig, ungeduldig. Auf der Startlinie knurren 16-Zylinder, Kompressoren fauchen.
Rosemeyer sitzt tief im Cockpit, die Hände fest auf dem filigranen Lenkrad. Er liebt Starts. Sie sind für ihn wie der Sprung eines Raubtiers aus dem Hinterhalt.
Flagge unten – und Rosemeyer wirft den Auto Union nach links, drückt durch, wuchtet das Heck mit einer Mischung aus Mut und Wahnsinn in die erste Kurve. Er geht tatsächlich als Erster hinein, vor Caracciola und Mays. Doch Caracciola kontert. Runde für Runde holt er auf, und bald übernimmt der Meister aus Remagen die Spitze. Es wirkt, als würde Mercedes den Tag bestimmen.
Hinter den Führenden tobt das Chaos: Billy Winn überholt Farina und Nuvolari, nur um später mit Technikproblemen zu stranden. Von Delius kämpft verbissen um jeden Meter. Nuvolari fährt wie im Rausch – bis der Alfa in Runde 16 mit einem schmerzhaften Schlag den Dienst quittiert.
In Runde 22 stoppt der stärkste Mann des Feldes: Caracciola rollt aus. Der Kompressor hat sich verabschiedet. Caracciola steigt aus, atmet tief durch – und zuckt mit den Schultern. Seine Hochzeitsreise geht weiter.
Davor und danach verschiebt sich alles. An der Spitze bleiben nur noch zwei Männer: Rosemeyer und Seaman.
Ein Deutscher und ein Brite. Zwei völlig unterschiedliche Temperamente, zwei völlig unterschiedliche Schicksale – doch auf dieser Bahn wirken sie wie Spiegelbilder. Unbarmherzig präzise, ruhig, taktisch brillant.
Währenddessen lässt Ferrari Nuvolari erneut ins Auto steigen – das zweite Mal an diesem Tag. Der Italiener frisst sich nach vorne, als wäre Schmerz ein Treibstoff. Doch auch dieser Motor bricht, als könne er Nuvolaris innere Last nicht tragen.
Rosemeyer muss tanken: 35 Sekunden. Seaman übernimmt die Spitze.
Rex Mays verliert beim Stopp mehr als eine Minute.
Das Rennen lebt plötzlich von Zahlen und Nerven.
Rosemeyer jagt den Mercedes. Runde um Runde schrumpft der Abstand. Seaman wird zum Gejagten, dann wieder zum Jäger, dann wieder zum Gejagten. Es ist ein Tanz ohne Musik, nur begleitet vom Kreischen der Reifen.
Dann, kurz vor Schluss, der Moment, der das Rennen bricht:
Seamans Mercedes braucht mehr Sprit. Eine Runde vor dem Ende muss er noch einmal hinein. Ein Boxenstopp, der Rosemeyer zur entscheidenden Lücke verhilft.
Als Rosemeyer die Ziellinie überquert, presst er das Kinn an die Brust. Keine Geste, kein Triumphschrei. Nur Erschöpfung. Und ein bitter-süßer Anflug von Erleichterung.
90 Runden.
482 Kilometer.
Schnitt über 130 km/h auf einer Bahn, die europäische Ingenieure nur Kopfschütteln gelehrt hat.
Rosemeyer hebt den Vanderbilt Cup. Die Fotografen drängen. Die Hitze steht wie ein Schleier über dem Platz. Seaman kommt als Zweiter, erschöpft, aber würdig. Mays wird Dritter, ein Held der amerikanischen Herzen.
Vielleicht ist es der Moment, in dem Legenden entstehen: der junge Deutsche mit dem Pokal vor der Skyline von New York. Später werden manche behaupten, er habe damals darüber nachgedacht, in Amerika zu bleiben. Dass eine neue Welt ihn mehr gereizt habe als die Fesseln der alten.