Die Rosemeyers

Client Name Eight
Die schnellste Strecke der Welt
1936
Es ist der 9. Mai 1937. Über dem Mellaha-Salzsee vor den Toren Tripolis’ flimmert die Luft, die Tribünen sind voll, auf dem Startplatz heulen die Kompressoren. Ganz vorn: die neuen Mercedes W125, die brutalsten Grand Prix-Wagen ihrer Zeit. Dahinter die Auto-Union-Boliden mit ihren sechzehnzylindrigen Heckmotoren. In einem davon sitzt Bernd Rosemeyer. Der deutsche Superstar des Jahres 1936 hat mit Tripolis noch eine Rechnung offen.
Der Große Preis von Tripolis findet nicht auf einem Straßenkurs mitten in der Stadt statt, sondern auf einer künstlich geschaffenen Hochgeschwindigkeitsarena: dem Autodromo della Mellaha. Der Kurs legt sich wie ein Rechteck um den Mellaha-Salzsee, östlich von Tripolis, direkt neben einem Militärflugfeld. 13,1 Kilometer misst eine Runde, und fast alles geht mit Vollgas: lange Geraden, flache Bögen, kaum enge Kurven.
Bis 1930 laufen die Tripolis-Rennen auf einem engen Stadtkurs, wirtschaftlich ein Flop. Der Präsident des Automobilclubs von Tripolis, Egidio Sforzini, setzt deshalb einen neuen Plan durch: ein moderner Rundkurs rund um den Salzsee. Die Strecke ist 1933 fertig, aber die monumentale Anlage mit großem Beton-Turm, riesiger Tribüne und Boxenanlagen entsteht erst 1934. Der neue Gouverneur von Italienisch-Libyen, Italo Balbo, lässt das Autodrom mit rund 2750 Arbeitern in nur hundert Tagen hochziehen – ein Prestigeprojekt für das faschistische Regime.
Die Tribüne fasst bis zu 10.000 Zuschauer und blickt auf Start-/Zielgerade und Kontrollturm – eine Bühne, die auf Fotos und Wochenschaufilmen spektakulär wirken soll. Innerhalb des Ovals liegt das Flugfeld Mellaha, zunächst Militärbasis, später US-Airbase, heute der zivile Mitiga International Airport von Tripolis. Von der Rennstrecke selbst bleiben nach dem Krieg nur Straßenspuren; Turm und Tribünen werden abgerissen.
Libyen ist seit 1912 italienische Kolonie. Die „Italian Libya“ soll zur Vorzeigekolonie werden: neue Straßen, Hafenanlagen, Stadtbauten – und eben ein Grand Prix, der Touristen und Siedler anlocken soll.
Der Staat braucht Geld und Aufmerksamkeit. Deshalb koppelt man das Rennen 1933 an eine staatliche Lotterie: Von Oktober 1932 bis April 1933 verkauft die Regierung 12-Lire-Lose. Ein Großteil des Erlöses fließt in einen gigantischen Jackpot. Einige Tage vor dem Rennen werden 30 Lose gezogen und per Zufall den Startnummern der Fahrer zugeordnet. Wer das Los des späteren Siegers hält, gewinnt den Millionenbetrag.
Der Plan funktioniert: Die Lotterie bringt Geld in die kassenklamme Kolonie und sorgt für Publicity. Gleichzeitig entsteht einer der langlebigsten Mythen der Motorsportgeschichte: der angebliche manipulierte Lotterie-Grand-Prix von 1933.
In der Presse kursiert später der Vorwurf, Topfahrer wie Achille Varzi und Tazio Nuvolari hätten sich mit Losbesitzern abgesprochen, das Ergebnis „zu organisieren“, um alle zu bereichern. Varzi gewinnt tatsächlich in einem dramatischen Duell gegen Nuvolari – mit einem Vorsprung von nur einigen Zehntelsekunden.
Aus Angst vor Manipulationsvorwürfen ändert der Veranstalter später das System: Die Startnummern werden erst kurz vor dem Rennen ausgelost, um vorherige Absprachen zu erschweren.
Diese Mischung aus Kolonial-PR, Lotterie und Skandal macht Tripolis schon vor dem Auftreten der deutschen Silberpfeile zu einem besonderen, aber auch schillernden Grand Prix. Mitte der Dreißiger ist Grand-Prix-Rennsport längst keine reine Privatsache der Hersteller mehr. Der Motorsport wird zum Werkzeug der Diktaturen.
In Deutschland stützt die NS-Regierung gezielt die Werksteams Mercedes-Benz und Auto Union: Die Teams erhalten direkte Subventionen und politische Rückendeckung. Historiker sprechen von einem bewussten Einsatz der „Silberpfeile“ als Schaufenster deutscher Technologie und als Propagandainstrument. Die Autos – Auto Union mit V16-Heckmotor, Mercedes mit gewaltigen Kompressor-Reihenachtern bis knapp 650 PS – dominieren die Szene und gelten als rollende Beweise deutscher Überlegenheit.
Für das faschistische Italien ist das heikel und zugleich nützlich: Man möchte einerseits italienische Fahrer und Marken sehen, andererseits nutzt man die Präsenz der deutschen Boliden, um die politische Achse Rom–Berlin auf der Rennstrecke sichtbar zu inszenieren. Gerade Tripolis, symbolträchtige Kolonie Mussolinis, eignet sich dafür perfekt.
In dieses Umfeld platzt ein junger Mann aus dem Emsland: Bernd Rosemeyer, geboren 1909 in Lingen, gelernter Mechaniker, zunächst Motorradrennfahrer.
1934 testet er für Auto Union, 1935 bekommt er einen Nachwuchsvertrag, 1936 avanciert er in seiner zweiten Automobilsaison zum europäischen Topstar. 1936 gewinnt er u. a. den Eifel-Grand-Prix auf dem Nürburgring, den Großen Preis von Deutschland und wird Europameister. Im Juli 1936 heiratet er die Fliegerin Elly Beinhorn – das Regime inszeniert das Paar als glamouröses Vorzeige-Duo. 1937 durchbricht er mit einem Auto-Union-Stromlinienwagen auf der Reichsautobahn bei Darmstadt als Erster die 400 km/h-Marke auf öffentlicher Straße.
Die NS-Propaganda stilisiert Rosemeyer zum Helden: mutig, jung, scheinbar furchtlos. Gleichzeitig bleibt er im Fahrerlager als eher unpolitische Figur beschrieben, dem es vor allem ums Fahren geht – ein Widerspruch, der viele Biographien durchzieht.
Tripolis ist für ihn doppelt wichtig: sportlich als einer der ganz großen Grand Prix, politisch, weil Siege hier besonders gern in Bild und Wochenschau ausgeschlachtet werden.
Der X. Gran Premio di Tripoli am 10. Mai 1936 ist das erste große Kapitel von Rosemeyer am Mellaha-See. Auto Union bringt den neuen Typ C mit 6-Liter-V16-Motor. Die Mercedes-Wagen, kurz und nervös, kämpfen mit Technikproblemen.
Rosemeyer setzt im Training eine Duftmarke: Poleposition in 3:28,0 Minuten, auf der schnellsten Strecke der Welt – ein Durchschnitt von gut 227 km/h.
40 Runden stehen an, insgesamt 525,6 Kilometer. Temperaturen und Staub sind extrem. Von Beginn an dominieren die Auto-Union-Wagen: Achille Varzi, Hans Stuck und Rosemeyer setzen sich gegen Mercedes ab, dessen Wagen unter anderem mit versagenden Bremsen kämpfen. Für Rosemeyer läuft es zunächst nach Plan, doch nach 18 Runden bricht sein Rennen ab: Ein Brand am Fahrzeug zwingt ihn zur Aufgabe.
An der Spitze entwickelt sich eine teaminterne Geschichte: Varzi, Ex-Alfa-Held und mittlerweile in schwieriger persönlicher Verfassung, fährt mit dem Auto Union C einen seiner letzten großen Triumphe. Er gewinnt nach 40 Runden in 2:31:25,4 Stunden vor Stuck und Luigi Fagioli im besten Mercedes.
Für Rosemeyer bleibt Tripolis 1936 eine verpasste Großchance – der Ort, an dem er schnell genug für den Sieg ist, aber vom Defekt gestoppt wird.
Ein Jahr später kehrt das gesamte Ensemble zurück – mit noch schärferer Technik und größerer politischer Bühne. Der XI. Gran Premio di Tripoli am 9. Mai 1937 ist ein nicht zur Europameisterschaft zählender, aber extrem prestigeträchtiger Lauf. Mercedes bringt erstmals im Rennen den neuen W125 an den Start: 5,6-Liter-Kompressor-Reihenachtzylinder mit bis zu rund 640–650 PS, das stärkste Grand-Prix-Auto des Jahrzehnts. Vier W125 sind gemeldet, dazu ein Vorjahreswagen W25 als zusätzliches Einsatzauto. Für Mercedes ist Tripolis der ganz große Auftritt des neuen Modells. Auto Union bleibt beim bewährten Typ C. Hans Stuck fährt im Training die schnellste Zeit: Pole in 3:19,9 Minuten – im Schnitt über 147 mph, also gut 237 km/h.
Auf den Tribünen sitzt die Kolonial- und Parteiprominenz, darunter erneut Italo Balbo und Vertreter des faschistischen Regimes. In Berlin hofft man auf Bilder deutscher Erfolge.
Der Start erfolgt im klassischen Le-Mans-Stil aus stehender Position. Die Wagen schießen auf die erste lange Gerade. Mercedes nutzt die neue Motorpower. Lang, Caracciola und Manfred von Brauchitsch ordnen sich vorne ein. Schon nach wenigen Runden schiebt sich auch Rosemeyer nach vorn; auf der zweiten Runde geht er zeitweise in Führung. Dann trifft ihn das Pech: In Runde 4 platzt hinten ein Reifen. Rosemeyer schleudert, rettet den Wagen zurück an die Box. Beim Radwechsel bricht die Flügelmutter – das charakteristische „winged wheel nut“. Die Mechaniker kämpfen damit, verlieren über drei Minuten Aus einem Siegkandidaten wird ein Hinterbänkler: Rosemeyer fällt auf Rang 11 zurück.
Vorne tobt das teaminterne Mercedes-Duell. Lang, Caracciola und von Brauchitsch wechseln sich in der Führung ab, gleichzeitig versuchen die Auto-Union-Fahrer, den Anschluss zu halten.
Dann beginnt Rosemeyers Aufholjagd: In der Hitze Tripolis’ fährt er Rundenzeiten nahe dem Rennrekord, überholt Wagen um Wagen. Der Kurs ist schnell, aber gnadenlos – jede Unruhe beim Anbremsen könnte ins Aus führen. Trotzdem nimmt er sichtbar mehr Risiko als viele Kollegen. Zeitgenössische Berichte sprechen von einer „wilden, entschlossenen Jagd“ durch das Feld.
Währenddessen dezimiert sich das Feld: Mehrere Auto-Union-Teamkollegen fallen zurück oder aus; bei Mercedes kämpfen die Autos mit Fahrwerksbelastung, doch Lang hält durch. Am Ende stehen 40 Runden, etwa 524 Kilometer bei einem Schnitt von 212,5 km/h für den Sieger.
Das Klassement:
1. Hermann Lang, Mercedes-Benz W125 – erster Grand-Prix-Sieg seiner Karriere, in 2:27:57,7 Stunden.
2. Bernd Rosemeyer, Auto Union Typ C – nach Reifenschaden und Boxenpech wieder ganz vorne, aber um Sekunden geschlagen.
3. Ernst von Delius, Auto Union, vor weiteren Auto-Union-Wagen – eine Phalanx silberner Heckmotorwagen hinter dem Mercedes-Sieger.
Der Rundenrekord geht an Hans Stuck: 3:25,73 Minuten im Rennen, Durchschnitt mehr als 230 km/h – ein Wert, der Mellaha endgültig als schnellste Rennstrecke der Zeit bestätigt.
Für Mercedes und das NS-Regime ist der Sieg ein Traum: Der neue W125 gewinnt ausgerechnet in der italienischen Kolonie, auf einer Bühne, die von Mussolinis Regime inszeniert ist. Die Bilder – Lang im W125 vor den Auto-Unions – gehen um die Welt und werden in Deutschland propagandistisch ausgeschlachtet.
Für Rosemeyer bleibt Tripolis 1937 ein ambivalentes Kapitel: Sportlich ist es eine seiner stärksten Leistungen überhaupt: Pole-Tempo, dann Reifenschaden, dann eine Aufholjagd von elf auf zwei. Gleichzeitig verstärkt das Rennen sein Image als kompromissloser Draufgänger, der auf Hochgeschwindigkeitskursen an der Grenze fährt – ein Image, das nur acht Monate später in den fatalen Rekordfahrten auf der Autobahn kulminiert.
Der Große Preis von Tripolis ist in der Rückschau mehr als ein exotischer Punkt im Rennkalender. Er bündelt mehrere Linien der Dreißiger:
Koloniale Ambition
Das Rennen soll Libyen als moderne, zivilisierte Kolonie Italiens präsentieren – mit glatten Straßen, futuristischer Architektur und internationalem Publikum. Balbos Engagement für Strecke und Autodrom ist Teil dieser Inszenierung.
Motorsport als Propaganda
Sowohl italienisches als auch deutsches Regime nutzen Grand-Prix-Erfolge, um technische und vermeintliche „rassische“ Überlegenheit zu demonstrieren. Die massiv subventionierten Silberpfeile sind fahrende Plakate dieser Ideologie.
Kommerzialisierung und Glücksspiel
Die Lotterie von 1933 zeigt, wie weit man bereit ist zu gehen, um Rennsport zu finanzieren und zu vermarkten – bis an die Grenze zur Sportmanipulation. Die Diskussionen darum halten bis heute an.
Technischer Wahnsinn
Auf Mellaha fahren Wagen mit 500–650 PS, schmalen Diagonalreifen und Trommelbremsen über 500 Kilometer mit Rennschnitt über 210 km/h. Jeder Fehler kann tödlich sein, und die Insassen sitzen praktisch ungeschützt.
Die Figur Rosemeyer
Tripolis rahmt die kurze, intensive Karriere Bernd Rosemeyers. 1936: der schnelle, aber vom Feuer gestoppte Polesetter. 1937: der Gejagte, der aus dem Mittelfeld zurück an Langs Heck stürmt.
Tripolis zeigt ihn in Reinform: radikal schnell, risikobereit, eingebettet in eine politische Kulisse, die er nicht kontrolliert.
Erzählst man heutedie Geschichte vom Großen Preis von Tripolis und Bernd Rosemeyer, dann rekapituliert man mehr als zwei Rennen. Man berichtet von einem künstlichen Hochgeschwindigkeits-Tempel in der Wüste; von einer Lotterie, die halb Marketing, halb Mythos ist; von zwei Diktaturen, die den Rennsport als Schaufenster ihrer Macht benutzen – und von einem Fahrer, der in Tripolis seine ganze Klasse zeigt – und doch nie gewinnt.
In der Gegenwart betrachtet wirkt Tripolis wie der Blick durch ein Mikroskop auf die Dreißiger: technisch faszinierend, sportlich großartig, politisch hoch belastet. Und mittendrin Bernd Rosemeyer, der am Mellaha-See gleich zwei Mal beweist, dass er zu den schnellsten Männern seiner Epoche gehört – auch wenn der ganz große Triumph hier ausbleibt.