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Der König von Pescara

1937

Es gibt Rennstrecken, die prägen Fahrer. Und es gibt Fahrer, die prägen Rennstrecken.
Doch nur selten entsteht diese magische Wechselwirkung, in der ein Mann und ein Ort sich gegenseitig unsterblich machen.
Für Bernd Rosemeyer und den Circuito di Pescara beginnt alles 1935 – mit jenem wilden, fast tollkühnen zweiten Platz hinter Achille Varzi. Doch was damals nur eine Ahnung war, wird in den beiden Folgejahren zur Gewissheit: Pescara gehört Rosemeyer. Und Rosemeyer gehört Pescara. So sehr, dass selbst seine größten Rivalen später sagen: „Wenn er irgendwo unschlagbar war – dann dort.“

Die Luft flimmert über dem Asphalt der Via Nazionale Adriatica. Es ist der 15. August 1935, Mariä Himmelfahrt, italienischer Feiertag – und der Tag, an dem sich die Abruzzen erneut in ein Donnern aus Kompressorhämmerei und wimmernden Reifen verwandeln. Pescara, diese Stadt zwischen Meer und Hügeln, bereitet sich auf eines der größten Straßendramen vor, das der Grand-Prix-Sport je erlebt hat: die XI. Coppa Acerbo, 20 Runden über einen Kurs, der länger, schneller und gefährlicher ist als alles, was Europa zu bieten hat.

25,8 Kilometer misst eine Runde des Circuito di Pescara. „Ein Kurs wie ein Höllenschlund“ – so wird er seinerzeit charakteristiert. Ein Drittel davon führt am Meer entlang, über eine schnurgerade Küstenstraße, wo die Wagen mit über 300 km/h an Strandbars, Fischerhütten und staunenden Touristen vorbeischießen. Dann knickt die Strecke abrupt ins Inland ab, klettert durch Spoltore und Cappelle sul Tavo, vorbei an Mauern, Weinbergen und Dorfplätzen. Keine Leitplanken, keine Auslaufzonen, dafür Brunnen, Hausecken und Telegrafenmasten im Abstand einer Armlänge.

Pescara ist kein Rennkurs – es ist ein naturbelassener Prüfstand für Mut, Material und den dünnen Grat zwischen Genie und Untergang. Und 1935 ist die Coppa Acerbo ein politisch aufgeladenes Spektakel. Benannt nach dem früh verstorbenen faschistischen Offizier Tito Acerbo, dient das Rennen Mussolinis Italien seit Jahren als Bühne, um Stärke zu demonstrieren. Alfa Romeo, mit der Scuderia Ferrari als Einsatzteam, ist der stolze Standardträger des Regimes. Und in diesem Sommer sollen die Roten wieder einmal beweisen, dass sie die Besten sind.

Doch diesmal rollt eine Bedrohung aus Deutschland heran: Auto Union, die heckmotorisierte Silberpfeil-Fraktion aus Sachsen, mit ihrem bollernden V16-Kompressor und zwei Männern, die an diesem Tag Geschichte schreiben werden – Achille Varzi, der große Stilist, und Bernd Rosemeyer, der hitzköpfige Quereinsteiger aus dem Motorradrennsport.

Und natürlich ist da Tazio Nuvolari. Der „Mantovano Volante“, der fliegende Mantuaner. Die italienische Volksseele auf vier Rädern. Wenn er fährt, hält Pescara den Atem an.

Die Startaufstellung wird per Los bestimmt, Ferrari-Star Louis Chiron steht ganz vorn. Doch als die Startflagge fällt, ist es Nuvolari, der die ersten beiden Runden anführt. Er wirft den kleinen, drahtigen Alfa P3 mit irrsinniger Entschlossenheit in die Hügel, während hinter ihm der metallische Donner zweier deutscher V16 anschwillt.

Varzi und Rosemeyer folgen wie Schatten. Der Italiener im deutschen Auto hat Pescara schon 1930 gewonnen – und er spürt, dass heute ein zweiter Triumph möglich ist. Rosemeyer hingegen ist der Neuling, der Wilde: keine Angst, keine Vorsicht, kaum Erfahrung. Nur Geschwindigkeit.

In der dritten Runde passiert das, was später wie der Wendepunkt eines Dramas wirkt: Varzi drückt sich an Nuvolari vorbei. Nicht spektakulär, nicht brachial, sondern mit jener geschmeidigen Präzision, die ihn schon zu Motorradzeiten ausgezeichnet hatte. Ab diesem Moment gibt er die Führung nie mehr her.

Die Runden fliegen dahin. Varzis Stil bleibt ruhig, kühl, fast mathematisch. Bei über 140 km/h Durchschnitt, wohlgemerkt – auf engen Dorfstraßen, die jeden Fehler bestrafen.

Nach 13 Runden passiert das Unvermeidliche: ein Ventilschaden. Nuvolari rollt aus, steigt aus, steht allein am Straßenrand. Das Publikum schweigt. Der Volksheld ist besiegt, nicht durch einen Gegner, sondern durch die Technik. Es wird still in Pescara – für einen Moment.
Aber Rennen haben keine Zeit für Trauer.

Bernd Rosemeyer fährt zu diesem Zeitpunkt bereits das Rennen seines Lebens. Doch es ist nicht fehlerfrei. In einer der bergigen Passagen verliert der Deutsche das Heck, rutscht in eine Mauer, beschädigt den Auto Union – und kann kaum glauben, dass das Auto noch fahrbereit ist. Die Mechaniker wechseln zwei Räder in kaum 30 Sekunden, Rosemeyer springt zurück ins Cockpit, als wäre er von einer Tarantel gestochen.

Was danach folgt, ist eine Demonstration roher Geschwindigkeit. Runde für Runde frisst er die Distanz zu den Alfa Romeo auf, überholt, distanziert, lässt sie stehen. Selbst Hans Stuck, der „Bergkönig“, kommt nicht an dieses Tempo heran: sein Auto stirbt frühzeitig mit Motorschaden.

Rosemeyer aber fährt weiter – immer weiter, immer schneller.

Vorn kontrolliert Varzi das Rennen. Er dreht die schnellste Runde des Tages, 10:35 Minuten – ein Schnitt von über 146 km/h auf öffentlichen Straßen. Die Menge erkennt, dass hier ein Meister am Werk ist, auch wenn er heute im Silberpfeil sitzt statt in einem roten Alfa.

Nach 3 Stunden 43 Minuten und 45 Sekunden überquert er die Ziellinie. Die Coppa Acerbo 1935 gehört Achille Varzi. Gut drei Minuten später rast Rosemeyer ins Ziel. Hinter ihnen: Brivio, Comotti, Tadini – allesamt im Ferrari-Alfa, allesamt geschlagen, teils um mehr als eine Runde.

Für Italien ist es ein Schock. Für Auto Union ein Triumph. Für Rosemeyer aber ist es der Anfang seiner Legende.

Viele nennen Pescara 1936 und 1937 die beiden Rosmeyer’schen Meisterstücke – seine Siege im monströsen Typ C, an diesem Kurs, der ihm lag wie keinem anderen. Doch wer genau hinsieht, erkennt:
Die eigentliche Geburtsstunde des Pescara-Königs ist 1935. Hier zeigt sich zum ersten Mal, dass dieser Mann keine Grenzen kennt. Dass er ein Fahrzeug beherrscht, das selbst Varzi und Stuck für launisch und gefährlich halten. Dass er bereit ist, jedes Risiko zu tragen – und dass ihm der Circuito di Pescara mehr liegt als jedem anderen Fahrer seiner Generation.

Pescara 1935 ist mehr als ein Rennen. Es ist ein Brennglas der Grand Prix-Ära: Politik, Technik, Waghalsigkeit und menschliches Drama, verdichtet auf einem Kurs, der gefährlicher war als die Nordschleife und schneller als Monza.

Varzi gewinnt. Rosemeyer wird Zweiter. Aber beide – in ihrer völlig unterschiedlichen Art – fahren an diesem Tag gegen etwas Größeres: gegen die Natur des Kurses, gegen die Erwartungen der Politik, gegen die Grenzen ihres Könnens.

Und beide bestehen die Prüfung im größten und längsten Schlauch der Welt, wie die wahnwitzige Piste an der italienischen Adriaküste auch genannt wird.

1936 ist dann ein Jahr des Umbruchs. Auto Union kommt mit dem neuen Typ C, dem brutalsten aller Vorkriegs-Silberpfeile: 5,2 Liter, V16, 520 PS, Heckmotor, Kompressor – ein Monster, das jede gerade Strecke in einen Hochgeschwindigkeitskorridor verwandelt und jede Kurve in einen Zweikampf mit der Physik.

Die Konkurrenz? Mercedes-Benz mit dem ebenfalls neuen W25 B, Alfa Romeo mit dem überarbeiteten P3. Doch in reiner Performance ist der Typ C in diesem Sommer der Herr der Lüfte. Und niemand kann ihn besser fliegen als Rosemeyer.

Am Morgen der Coppa Acerbo 1936 liegt eine drückende Hitze über der Küstenstraße. Der Asphalt glüht. Öl wird dünn wie Wasser. Der Typ C zischt, knackt, atmet schwer wie ein Ungeheuer, das geweckt wurde.
Rosemeyer startet weit vorn – und bleibt nie lange in Gesellschaft.

Schon in der ersten Runde jagt er förmlich davon. Wo andere vorsichtig am Abgrund entlangrollen, peitscht er den Typ C durch die Dörfer, als seien es Slalomstangen. Die Zuschauer fliehen in Hauseingänge, wenn der Silberpfeil wie ein metallener Blitz durch die engen Gassen schießt.

Auf den langen Geraden Richtung Montesilvano fährt Rosemeyer nicht – er galoppiert. Der V16 schreit. Der Kompressor pfeift. Und der Mann im Cockpit denkt nicht an Risiko, nur an Richtung.

Bis zur Rennhälfte ist klar: Dies ist kein Zweikampf. Es ist eine Machtdemonstration. Ein Mann, ein Auto, ein Kurs. Andere Fahrer sprechen später mit einer Mischung aus Faszination und Furcht über diesen Tag.
 Hans Stuck sagt: „Ich weiß nicht, wie er dieses Auto dort so werfen konnte.“ 
Rudolf Caracciola nennt es „eine Art tanzenden Wahnsinn“.

Doch in Rosemeyers Kopf ist es kein Tanz. Dort ist nur – Klarheit. 
Der Kurs, so hatte er es einmal formuliert, liege ihm „wie ein Handschuh in der Seele“. Als er nach 3:28 Stunden die Zielflagge sieht, ist er mehr als sechs Minuten vor dem Rest des Feldes. Ein Universum im Motorsport.

Pescara 1936 ist der Moment, in dem die Fachwelt erkennt:
 Hier ist jemand, der den Sinn des Straßenrennsports verstanden hat – früher, härter und tiefer als jeder andere.

1937 kehrt Rosemeyer als gereifter Mann zurück. Weltrekorde auf der Autobahn, Siege in Deutschland, Donington, die Eifel – und der Europameisterschaftstitel 1936 im Rücken. Doch auch ein Jahr, das ihn im Inneren verändert.

Die Hochzeit mit Rennfliegerin Elly Beinhorn gibt ihm eine neue, fast poetische Ruhe. Er ist kein Draufgänger mehr. Er ist ein Meister geworden. Die Deutschen erwarten einen erneuten Auto-Union-Sieg. Die Italiener hoffen auf einen Aufstand der roten Wagen. Doch in Pescara wissen viele: Wenn er startet, wird er fliegen.

Der Typ C hat 1937 noch mehr Biss. Das Fahrwerk ist kompromissloser, die Leistung neu ausgelegt. Auf normalen Kursen ist das Auto fast zu viel für jeden Menschen. Nur einer kann es bändigen: Rosemeyer. Im Training setzt er eine Zeit, die die Offiziellen zunächst für einen Messfehler halten. Zu schnell, zu flüssig, zu perfekt.

Doch es ist kein Fehler. Es ist Rosemeyer.

Als die Ampel erlischt – oder besser gesagt, der Starter die Flagge schwenkt – ist sofort klar, wohin die Reise geht. Rosemeyer schießt davon wie eine gespannte Feder, die endlich befreit ist. Er fährt Runden, die später als „gespenstisch konstant“ beschrieben werden. Wo Varzi 1935 mit Eleganz glänzte und 1936 alle vor Ehrfurcht erstarrten, ist 1937 eine neue Form von Kontrolle zu sehen: Der Mann verschmilzt mit der Maschine.

In den Dörfern steht das Publikum Schulter an Schulter – und sie hören ihn, bevor sie ihn sehen: dieses turbinenartige Aufheulen des V16, gefolgt vom grollenden Echo, wenn der Kompressor Luft in die Zylinder presst. Und dann – ein silberner Blitz, eine Staubwolke, Stille.

Kurz nach Rennmitte kommt die Szene, die später in jede Biographie wandert: Rosemeyer passiert Cappelle sul Tavo, bremst später als jeder Andere jemals zuvor, lässt das Heck diagonal stehen – und korrigiert nicht. Er fängt das Auto nicht durch Gegenlenken. Er reitet den Drift.

Das Publikum johlt. Die Mechaniker schlagen sich die Hände vors Gesicht. Mercedes-Ingenieure schütteln nur den Kopf. Niemand versteht, wie er das macht.

Nach über 500 Kilometern rollt Rosemeyer über die Ziellinie. Wieder mit Minuten Vorsprung. Wieder ohne einen einzigen Fehler. Die italienischen Sportzeitungen – sonst sparsam mit Lob für deutsche Fahrer – schreiben: „Pescara hat seinen wahren Herrscher gefunden.“

Damit ist die Krönung vollzogen: 1936 und 1937 – zwei Siege, zwei Lehrstücke, zwei Meisterwerke.
Warum ausgerechnet Pescara? Diese Frage beschäftigt Historiker bis heute. Einige sagen:
Weil Rosemeyer als Ex-Motorradmann Angstfreiheit kannte wie kein anderer. Andere meinen: Weil er intuitiv spürte, wie ein Heckmotorauto lebte und atmete.

Aber die wahrscheinlichste Erklärung ist eine andere: Der Circuito di Pescara war kein Kurs für Kalkulatoren. Er war ein Kurs für Instinkte. Für Menschen, die Linien fühlen statt berechnen. Für Fahrer, die in der Geschwindigkeit eine Sprache sahen – keine Gefahr. Und niemand sprach diese Sprache fließender als Rosemeyer.

Die Coppa Acerbo wird nach dem Krieg umbenannt, erst zur „Circuito di Pescara“, später gelegentlich zum „Gran Premio di Pescara“. Der Name Acerbo verschwindet, sein politischer Ballast zu schwer. Doch der Mythos bleibt. Und in diesem Mythos steht ein Name höher als alle anderen: Bernd Rosemeyer. Der Mann, der dreimal nacheinander die vielleicht wildeste Strecke der Welt bezwang. 1935 mit Mut. 1936 mit Genie. 1937 mit Meisterschaft. Pescara hat ihn groß gemacht. Und er hat Pescara unsterblich gemacht.

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