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„Ich kann ihn halten“

2023

Die Wintersonne steht tief über der Reichsautobahn Frankfurt–Darmstadt. Es ist der 28. Januar 1938, ein Freitag, der später in die Technikgeschichte eingehen wird. Die Luft ist kalt, fast schneidend – ideales Medium für maximalen Sauerstoffgehalt, perfekten Ladungsdruck und damit höchste Motorleistung. Doch diese Luft trägt heute auch eine zweite, unberechenbare Komponente: den Seitenwind.

Auf dem abgesperrten Abschnitt zwischen Langen und Mörfelden herrscht gespannte Konzentration. Hier entsteht gerade moderne Hochgeschwindigkeitsforschung – in Echtzeit, unter Lebensgefahr. Es ist ein rollendes Freiluftlabor, ein Ort, an dem Aerodynamik, Thermodynamik, Strömungsmechanik und Materialwissenschaft nicht in Lehrbüchern existieren, sondern bei über 400 km/h im wahrsten Sinne des Wortes ausprobiert werden.

Und im Zentrum steht ein 28-jähriger Mann: Bernd Rosemeyer, Auto Unions Wunderfahrer, Weltstar, Ikone.
Bevor Rosemeyer in seinen Stromlinienwagen steigt, ist bereits klar, dass heute keine gewöhnlichen Testläufe stattfinden.

Die Rekordversuche folgen strengem Reglement der AIACR, also der Vorgängerorganisation des heutigen Automobilweltverbands FIA:
– fliegender Kilometer und fliegende Meile,
– Hin- und Rücklauf,
– Mittelwertbildung als offizieller Rekordwert.

Die physikalischen Parameter, die über Erfolg oder Misserfolg entscheiden, sind vielfältig:
–Luftdichte: bei winterlicher Kälte höher → bessere Motorleistung
– Rollwiderstand: trocken, geringe Oberflächenrauheit → optimal
– Aerodynamische Seitenkraft: größte Unsicherheit
– Fahrwerkseigenfrequenz: kritischer Faktor, da kleine Seitenkräfte Resonanzen anstoßen können
– Lenkimpulsübertragung: bei über 400 km/h nur wenige Grad Lenkwinkel tolerierbar.

Diese Variablen bilden ein Gleichungssystem, das in Sekundenbruchteilen über Stabilität oder Kontrollverlust entscheidet. Genau darin bewegt sich Rosemeyer – auf einem Grat, schmaler als ein Schreibmaschinenstrich.

Der Morgen beginnt mit einem Meilenstein: Rudolf Caracciola fährt im Mercedes W 125 Rekordwagen Durchschnittswerte über 432 km/h. Das ist nicht nur Rekord – das ist eine neue aerodynamische Ära.

Die Wissenschaft dahinter:
Mercedes ersetzt den klassischen Kühllufteinlass durch einen 500-Liter-Kühlwassertank mit Eis. Das bringt als Vorteil minimalste Lufteinlassöffnungen mit sich. Die dadurch drastisch reduzierte Stirnfläche
 bedingt einen geringeren cW-Wert. Gliechzeitig bleibt die Temperatur über den kurzen Sprint hinweg konstanter in einem definiert kurzen Betriebsfenster als bei klassischer Luftkühlung.

Der Bug des W 125 Rekordwagens ist bewu±±sst steiler als frühere Versionen.
Ein scheinbarer Widerspruch – aber er rzeugt Druck am Vorderwagen, tabilisiert die Lenkachse und verhindert ein Aufschwimmen bei Böen.

Das ist ingenieurwissenschaftlich brillant – und Auto Union weiß: Das wird schwer zu schlagen.

Der Auto Union-Stromlinienwagen ist aerodynamisch ein Meisterstück, aber auch ein Risiko.

Seine Achillesferse: Die Kombination aus Mittelmotor und langer Heckflosse → machen ihn bei Böen sehr leicht instabil.
Der Motor sitzt hinter dem Fahrer. Die Vorteile: bessere Traktion, tiefer Schwerpunkt. Aber die Nachteile: das Massenzentrum ist nach hinten verschoben, es gibt eine geringere Seitensta±+±++bilität bei Anströmung und eine latente Tendenz zum Aufdrehen bei giermomentrelevanten Böen – also zum Ausbrechen und Aufsteigen gleichzeitig.

Die extreme Stromlinienform ist ein zweischneidiges Schwert.

Die glatte Karosserie schafft niedrigen Luftwiderstand und eine gut definierte Laminarströmung. Doch im Seitenwind bietet sie eine große seitliche Angriffsfläche und einen hohen Hebelarm zwischen Druckpunkt und Massezentrum, das provoziert extreme Giermomente.

Die Ingenieure wissen: Ein Seitenkraftimpuls von nur zwei bis vier Prozent des Fahrzeuggewichts genügt, um bei 430 km/h eine instabile Schwingung anzustoßen.

Kurz nach 10:40 Uhr rollt Rosemeyer zum Startpunkt. Die Techniker wirken angespannt. Die Windmessgeräte zeigen leicht steigende Querverhältnisse, besonders im Abschnitt zwischen Kilometer 7 und 8, wo die Waldschneise eine Art Windkanal bildet.

Rosemeyer überprüft seinen Sitz, zieht den Helmriemen nach. Er wirkt ruhig, aber fokussiert. Er ist keiner, der Risiken übersieht – er ist einer, der sie beherrscht. Zumindest versucht er es.

Der Motor erwacht mit einem metallischen Jaulen. Der Kompressor baut Druck auf. Die Mechaniker treten zurück.

Start.

Der Auto Union beschleunigt im ersten Drittel der Strecke nahezu linear. Die Luftdichte ist ideal. Der Kompressor arbeitet im oberen Wirkungsgrad. Der Sprint aus dem Stand auf 200 km/h geht Rosemeyer leicht von der Hand.

Doch oberhalb der 200 km/h-Marke beginnen die kritischen aerodynamischen Effekte:
– Verlagerung des Druckpunkts nach hinten
– Aufschwimmen der Vorderräder um wenige Millimeter
– erhöhte Sensibilität für Seitenkraft

Rosemeyer korrigiert mit feinsten Lenkbewegungen. Er erreicht 350 km/h.

Dies ist der Bereich, in dem der Wagen wissenschaftlich betrachtet „in die nichtlineare Strömungsdynamik“ eintritt: Der Unterdruck am Heck steigt überproportional. Kleine Störungen erzeugen große Momentenänderungen. Die Frequenz des Gierwinkels nähert sich einer Eigenfrequenz des Fahrwerks. Das ist Hochgeschwindigkeitsforschung – unfreiwillig, aber real.

Die Zeitnehmer bei Kilometer 7,6 registrieren eine Durchfahrt, die rechnerisch 429 bis 430 km entspricht. Damit liegt Rosemeyer nur wenige km/h hinter Caracciolas Rekordwert.

Doch gleichzeitig beobachten die Ingenieure ein leichtes Ausscheren des Hecks, ein periodisches Schwingen, ein mikroskopisch kleines Versetzen der Spur. Für damalige Instrumente kaum messbar – aber für geschulte Augen sichtbar.

Als Rosemeyer den Wagen zurück zum Start rollt, wirken die Techniker alarmierter als zuvor.
 Er selbst wirkt konzentriert, aber nicht beunruhigt. Er sagt: „Hinten arbeitet er stärker als vorhin.“

Ein Satz, der mehr über die tatsächliche Lage aussagt als jede spätere Analyse. Ein Mechaniker fragt: „Der Wind?“ Rosemeyer nickt. „Kommt stoßweise.“

Doch er sagt auch: „Ich kann ihn halten.“

Dieser Satz ist entscheidend. Zwischen technischer Warnung und fahrerischem Selbstvertrauen entscheidet er sich für eine weitere Fahrt.

Die letzten Bedenken verstummen – nicht, weil sie verschwunden wären, sondern weil Rosemeyer den Mut hat, sie zu überschreiben.

Er steigt wieder ein.

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