Die Rosemeyers

Hightech im Vergleich
28.2.23, 22:00
This is a paragraph. It is connected to a CMS collection through a dataset. Click “Edit Text” to update content from the connected collection.
Die Rekordwoche auf der Autobahn Frankfurt–Darmstadt ist nicht nur ein sportliches Ereignis. Sie ist ein technisches Kräftemessen zweier völlig unterschiedlicher Philosophien. Auf der einen Seite steht der Mittelmotor-Rekordwagen von Auto Union, auf der anderen der Frontmotor-Rekordwagen von Mercedes-Benz. Beide verfolgen dasselbe Ziel: maximale Geschwindigkeit auf möglichst kurzer Distanz. Der Weg dahin ist grundverschieden.
Auto Union
Der Rekordwagen von Auto Union basiert auf dem Grand-Prix-Typ C. Der V16-Motor sitzt direkt hinter dem Fahrer, längs eingebaut, die Kraft geht über ein Getriebe im Heck auf die Hinterräder. Dieses Mittelmotor-Konzept ist seiner Zeit weit voraus.
Vorteile
– Die schweren Komponenten – Motor und Getriebe – liegen dicht am Schwerpunkt.
– Das Trägheitsmoment um die Hochachse bleibt klein, der Wagen reagiert sehr direkt auf Lenkbefehle.
– Die Hinterachse hat viel Gewicht, was bei Beschleunigung und hoher Geschwindigkeit für gute Traktion sorgt.
Nachteile
– Der Wagen neigt bei plötzlichen Lastwechseln dazu, schnell auszubrechen herumzukommen – die Grenze zwischen stabil und instabil ist schmal.
– Der Motor sitzt im Rücken des Fahrers: Geräusch, Hitze und Vibrationen sind extrem.
– Die Unterbringung von Kühlern und Treibstoff ist beengt, was die Kühlung anspruchsvoll macht.
Hinten verwendet Auto Union eine Pendelachse. Dabei kippt das Rad beim Ein- und Ausfedern, die Spur und Sturz ändern sich deutlich. Auf normaler Rennstrecke ist das schon anspruchsvoll. Auf einer Rekordstrecke mit 400 km/h wird das zur kritischen Größe.
Vorteile
– Konstruktion relativ leicht und robust.
– Bei moderaten Geschwindigkeiten ordentliches Fahrverhalten, in Kombination mit dem Mittelmotor gute Traktion.
Nachteile
– Bei hoher Querbeschleunigung und Lastwechseln stellt sich das Rad stark auf, der Reifen arbeitet ungünstig, das Auto kann schlagartig übersteuern.
– Seitenwind verstärkt diesen Effekt: Zerrt eine Böe am Wagen, belastet sie eine Seite stärker, die Pendelachse verändert ihre Geometrie – das Auto reagiert abrupt.
In der Rekordpraxis bedeutet das: Der Wagen ist unfassbar schnell, aber bei Seitenwind oder kleinsten Lenkbewegungen heikel. Rosemeyer benötigt hohe körperliche und fahrerische Reserven, um das Fahrzeug trotz aller Instabilitäten gerade zu halten.
Im Heck arbeitet ein 16-Zylinder-V-Motor mit rund 6 Litern Hubraum, Rootsgebläse und enormem Drehmoment. Die Maschine leistet im Rekordtrimm über 500 PS. Entscheidende Merkmale:
– Das maximale Drehmoment liegt schon bei relativ niedriger Drehzahl an.
– Für Rekordfahrten zählt nicht die Dauerhaltbarkeit, sondern die Fähigkeit, für kurze Zeit maximale Leistung abzugeben.
Der Motor läuft mit Spezialkraftstoffgemisch, das hohe Verdichtung und Ladedruck erlaubt.
Vorteile
– Gewaltige Beschleunigung, gerade im oberen Geschwindigkeitsbereich.
– Der Motor kann mit relativ kurzer Übersetzung gefahren werden, um bei 400 km/h nahe am Leistungsmaximum zu liegen.
Nachteile
– Thermische Belastung ist extrem. Weil die Stromlinienkarosserie die Kühlluftöffnungen minimiert, ist das Temperaturfenster eng.
– Ein Fehler in Gemischaufbereitung oder Zündung, und die Maschine überhitzt oder detoniert in Sekunden.
– Aerodynamik – Stromlinie mit Kompromissen
Die Stromlinienkarosserie von Auto Union entsteht aus praktischer Weiterentwicklung: Man nimmt den Typ C und überbaut ihn mit einer geschlossenen Hülle. Räder verschwinden unter Verkleidungen, die Front wird flach und rund, das Heck zieht sich lang nach hinten. Windkanalversuche helfen, die Form zu glätten.
Vorteile
– Deutlich geringerer Luftwiderstand als die offene GP-Version.
– Geschlossene Räder und glatte Flächen reduzieren Verwirbelungen.
– Das lange Heck verringert den Unterdruck hinter dem Wagen.
Nachteile
– Der Wagen bleibt im Kern ein umgebauter Rennwagen, kein reinrassiger Rekordwagen. Der Rahmen, die Fahrwerksgeometrie und die Masseverteilung geben Grenzen vor.
– Weil der Motor im Heck sitzt, wächst das Volumen dort, das ideal aerodynamische Tropfenprofil lässt sich nur angenähert realisieren.
– Kühlluftöffnungen müssen trotz aller Stromlinie vorhanden sein – jeder Schlitz stört den Luftstrom.
In Summe entsteht ein Fahrzeug, das für seine Zeit ein aerodynamisches Meisterstück ist, aber auf einem Kompromiss beruht: Maximale Geschwindigkeit mit einer Plattform, die ursprünglich für Grand-Prix-Rennen gedacht ist.
Mercedes-Benz
Mercedes setzt beim Rekordwagen auf eine andere Philosophie: Ein sehr starker V12-Kompressormotor sitzt vorn, die Kraft geht über ein klassisches Layout an die Hinterachse. Das Fahrwerk basiert auf dem erfolgreichen W 125, ist aber gezielt auf Rekordfahrten angepasst.
Vorteile
– Die Konstruktion baut auf einem erprobten Rennwagen auf, der Stabilität und Dauerleistung bereits bewiesen hat.
– Die Ingenieure kennen das Verhalten des Autos in Grenzbereichen, auch bei sehr hoher Geschwindigkeit.
– Der schwere Motor vorne erzeugt hohe Belastung auf der Vorderachse, was bei Geradeausfahrt für Spurtreue sorgt.
Nachteile
– Hohe Motor-Masse vor der Vorderachse erhöht das Trägheitsmoment um die Hochachse.
– Das Gesamtfahrzeug wird länger, der Schwerpunkt liegt weiter vorn, die Gewichtsverteilung ist weniger ideal für reine Hochgeschwindigkeitsstabilität als bei einem perfekt optimierten Rekordlayout.
Der Mercedes-Rekordwagen nutzt hinten eine De-Dion-Achse. Dabei bleiben die Räder durch eine starre Querstrebe zueinander in definierter Geometrie; das Differenzial sitzt am Chassis, nicht auf der Achse.
Vorteile
– Die Spur und der Sturz der Hinterräder ändern sich beim Ein- und Ausfedern kaum.
– Die ungefederten Massen sind geringer als bei einer Voll-Starrachse, die Traktion bleibt hoch.
– In Hochgeschwindigkeits-Passagen reagiert das Fahrzeug berechenbarer als ein Auto mit Pendelachse.
Nachteile
– Die Konstruktion ist schwerer und komplizierter.
– Für eine reine Rekordmaschine könnte man noch leichter bauen – doch Mercedes bleibt aus Gründen der Entwicklungslogik nahe am Grand Prix-Konzept.
– Die Vorderachse mit Einzelradaufhängung und Drehstabfedern trägt zusätzlich zur Stabilität bei. Insgesamt zielt der Mercedes stärker auf berechenbares Verhalten als auf maximale Agilität.
Motor
Herzstück ist der großvolumige V12 mit Kompressor. Die Maschine liefert deutlich mehr Leistung als der Auto-Union-V16, in der Spitze um oder über 700 PS. Um diese Leistung in einem glatten Stromlinienkörper unterzubringen, wählen die Ingenieure einen radikalen Ansatz: Eiskühlung.
Statt großer Kühlerflächen in der Front sitzt der Wärmetauscher in einem Reservoir aus Wasser und Eis. Der Motor heizt dieses Wasser während der Rekordfahrten auf, ohne dass viel Luft durch die Karosserie strömen muss.
Vorteile
– Die Kühlluftöffnungen an der Front schrumpfen oder entfallen fast ganz. Das senkt den Luftwiderstand massiv.
– Die Karosserie lässt sich wie ein nahezu perfekter Tropfen formen, mit sehr niedrigem cw-Wert.
– Für kurze Rekordläufe reicht die Kapazität des Eis-Wasser-Gemischs aus.
Nachteile
– Das System ist schwer. Hunderte Liter Wasser/Eis bedeuten zusätzliche Masse.
– Nach wenigen Läufen ist das Kühlwasser zu warm, das System muss neu befüllt werden – der Betrieb ist logistisch aufwendig.
– Die gesamte Abstimmung ist radikal auf kurze Vollgasphasen ausgelegt; Dauerbetrieb wie im Grand-Prix-Rennen ist damit ausgeschlossen.
Beim Mercedes-Rekordwagen steht die Aerodynamik von Anfang an im Zentrum. Die Stromlinienhülle wird nicht nachträglich auf einen vorhandenen Wagen gesetzt, der Wagen entsteht um die Hülle herum. Die Nase ist extrem niedrig, die Dachlinie flach, das Heck zieht sich weit nach hinten. Räder und Aufhängung verschwinden komplett unter Blech.
Vorteile
– Sehr kleiner Luftwiderstand; in der Literatur liegen die geschätzten cw-Werte deutlich unter denen des Auto Union.
– Weniger Verwirbelungen an Rädern und Fahrwerk, weil alles verdeckt ist.
– Durch die Fokussierung auf Geradeausfahrt können die Ingenieure Auftrieb und Abtrieb gezielt steuern.
Nachteile
– Die erste Ausführung erzeugt trotzdem Auftrieb an der Vorderachse, wie Tests bei knapp 400 km/h zeigen. Der Luftstrom um die Front und unter dem Wagen ist hochsensibel.
– Korrekturen der Karosserie sind aufwendig; kleine Änderungen an Neigungswinkeln oder Profilen haben große Wirkung.
– Die Hülle bietet kaum Zugriff; Service- und Reparaturarbeiten sind schwieriger als bei einem offeneren Fahrzeug.
In der Rekordwoche 1937 tritt genau dieser Nachteil zutage: Der Wagen ist theoretisch unfassbar schnell, in der Praxis aber noch nicht perfekt abgestimmt.
Wenn man beide Konzepte nebeneinanderlegt, ergibt sich ein klarer Gegensatz:
Auto Union
Philosophie: Grand-Prix-Wagen zum Rekordwagen weiterentwickeln.
Stärken:
Bekannte Basis, erprobte Technik.
Mittelmotor sorgt für gute Traktion und spektakuläre Beschleunigung.
Stromlinienkarosserie reduziert den Luftwiderstand deutlich, ohne das Grundlayout zu ändern.
Schwächen:
Pendelachse und Mittelmotor ergeben in Extremsituationen ein nervöses Fahrverhalten.
Begrenzte Möglichkeiten, die Aerodynamik vollständig zu optimieren.
Kühlung und Thermik sind kritisch, das Temperaturfenster ist eng.
Mercedes-Benz
Philosophie: Aus einem erfolgreichen GP-Wagen einen nahezu eigenständigen Rekordwagen entwickeln.
Stärken:
Sehr leistungsstarker V12 mit Reserven.
De-Dion-Hinterachse und Fahrwerkslayout geben hohe Stabilität.
Radikal optimierte Aerodynamik mit Eiskühlung schafft einen extrem geringen Luftwiderstand.
Schwächen:
Komplexes, schweres Kühlsystem, stark beschränkt auf sehr kurze Einsatzzeiten.
Frontmotor-Layout führt zu größerer Gesamtlänge und höherem Gewicht.
Sensitivität gegenüber Auftrieb an der Vorderachse – ein Problem, das erst durch weitere Versuche und Modifikationen lösbar ist.
In der Rekordwoche 1937 zeigt sich: Auto Union holt den ersten großen Erfolg, weil das Konzept fertig genug ist, um gefahren zu werden. Mercedes ist in manchen Punkten weiter, in anderen noch im Experimentierstadium. Die Stuttgarter nutzen die Woche als Labor; das Resultat sind spätere Rekordfahrten mit über 430 km/h, aber eben nicht in diesen Tagen.
Beide Konzepte teilen einen Aspekt: Das Verständnis von Sicherheit entspricht der Zeit, nicht den Geschwindigkeiten. Weder Auto Union noch Mercedes bauen Überrollbügel ein, Gurte sind nicht vorgesehen. Die Kabinen sind eng, die Fahrer tragen Lederhauben und einfache Helme.
Aus heutiger Sicht ist das Risiko kaum vorstellbar. Ein technischer Fehler, ein Reifenschaden, eine Windböe – und der Wagen verlässt bei 400 km/h die Fahrbahn. Weder Karosseriestruktur noch Cockpit bieten echten Schutz. Die Ingenieure akzeptieren dieses Risiko, weil die Rekorde als Beweis der Leistungsfähigkeit gelten. Die Fahrer akzeptieren es, weil das Fahren am Limit ihr Beruf und ihr Mythos ist.
Die Rekordwoche auf der Autobahn Frankfurt–Darmstadt macht sichtbar, wie unterschiedlich man in den dreißiger Jahren an die Grenze der Physik herangeht. Auto Union setzt auf ein raffiniert weiterentwickeltes Rennwagenkonzept, das in hohem Maß vom Können des Fahrers lebt. Mercedes-Benz baut einen beinahe reinen Rekordapparat, eine Maschine, die für wenige Sekunden absoluten Vortriebs geschaffen ist – und dafür extreme technische Kompromisse eingeht.
Beide Konzepte bringen den gleichen Preis mit sich: Jeder zusätzliche Kilometer pro Stunde verschiebt die Grenze zwischen genialer Ingenieurleistung und lebensgefährlichem Wagnis ein Stück weiter nach vorn. In der Rekordwoche 1937 überwiegt noch die Faszination. Die Schatten – in Form von Unfällen und Verlusten – stehen zu diesem Zeitpunkt erst am Horizont.