Die Rosemeyers

Der Nebelmeister
28.2.23, 22:00
Auf dem Nürburgring stochert Bernd Rosemeyer 1936 waghalsiger durch den Nebel als alle Gegner.
Die Eifel hat ein Talent dafür, selbst den größten Renntag in eine Prüfung der Elemente zu verwandeln. Heute, am 14. Juni 1936, zeigt sie sich von ihrer launischsten Seite. Seit dem Mittag regnet es über der Nordschleife, und gegen Abend hängt die feuchte Luft so schwer in den Wäldern, dass die Kuppen und Schneisen wie ausgewaschen wirken. Trotzdem drängen sich rund 300.000 Zuschauer entlang der 22,810 Kilometer langen Strecke. Sie sind gekommen, um die Auseinandersetzung der großen Werke zu sehen: Mercedes-Benz, Auto Union, Alfa Romeo – und mittendrin ein junger Fahrer, dessen Stern gerade erst aufgeht: Bernd Rosemeyer, 26 Jahre alt.
Der Startplatz liegt im wässrigen Dämmerlicht. Unter den Planen tropfen die Maschinen vor sich hin, während Mechaniker mit öligen Lappen über Chrom und Alu fahren. Die Wagen sind Monumente ihrer Epoche.
Der Auto Union Typ C, den Rosemeyer steuert, trägt den mächtigen V16-Mittelmotor unter seiner langen Rückenlinie. Fast sechs Liter Hubraum, Kompressor, etwa 520 PS, mehr als jeder andere Wagen im Feld. Ein Gerät, das über die Hinterachse schiebt wie eine entfesselte Lokomotive – und bei nasser Strecke dringend eine sichere Hand verlangt.
Der Mercedes-Benz W25 wirkt traditioneller: Frontmotor, etwa 450 PS, in der Kurzversion für 1936 mit verkürztem Radstand – wendiger, aber heikel an der Haftgrenze.
Die roten Alfa der Scuderia Ferrari – 8C-35 und neuer 12C-36 – sind leichter, eleganter, aber mit rund 330 bis 370 PS deutlich schwächer als die deutschen Silberpfeile.
Neben Rosemeyer treten für Auto Union an: Stuck, Varzi, von Delius.
Für Mercedes: Caracciola, von Brauchitsch, Lang, Chiron.
Für die Scuderia Ferrari: Nuvolari, Brivio, Farina, Trossi.
Dazu Maserati als Außenseiter.
Im Training hat von Brauchitsch die schnellste Zeit aufgestellt. Rosemeyer und Nuvolari liegen dicht dahinter. Die erste Reihe wird nach Leistung gesetzt – dahinter entscheidet ein Losverfahren.
Um 8.15 Uhr fällt die Flagge. Die Motoren heulen auf wie ein einziges Tier. Caracciola startet glänzend und übernimmt sofort die Spitze. Hinter ihm presst sich Nuvolari nach vorn. Rosemeyer hält Anschluss, fährt sauber, aber noch ohne ganzes Risiko.
Die erste Runde: Caracciola führt mit wenigen Sekunden vor Nuvolari. Rosemeyer folgt – etwa 18 Sekunden dahinter. Dahinter drängen von Brauchitsch, Lang und die Ferrari-Piloten.
Ein Sportwart erinnert sich später: „Man sah schon in der ersten Runde, dass der Junge es nicht erzwingen wollte. Er tastete sich an den Regen heran. Aber er war nie langsam.“
Die zweite und dritte Runde bringen ein hartes Duell an der Spitze: Nuvolari klebt am Mercedes von Caracciola, beide fahren auf dem glitschigen Asphalt ein Tempo, das niemand im Publikum für möglich gehalten hätte. Rosemeyer bleibt hinter ihnen, aber Runde um Runde rückt er näher.
Auf Runde vier geht Caracciolas Mercedes in die Knie. Ein defekter Stoßdämpfer wirft den „Regenmeister“ zurück – er muss wenig später aufgeben. Nuvolari übernimmt die Führung. Rosemeyer rutscht auf Rang zwei vor.
Nach fünf Runden hat Nuvolari noch etwa neun bis zehn Sekunden Vorsprung auf Rosemeyer.
Es ist Halbzeit.
Jetzt beginnt der Moment, für den Rosemeyer geboren scheint.
Auf der sechsten Runde, auf den langen Steigungen zwischen Karussell und der Hohen Acht, arbeitet der ungeheure Drehmomentstoß des V16 für ihn. Der Alfa Nuvolaris stemmt sich tapfer bergauf, doch der Auto Union kommt näher, Meter für Meter.
Vor der Döttinger Höhe ist Rosemeyer direkt hinter dem Alfa.
Beim Einbiegen auf die Start- und Zielgerade setzt er an – der Mercedes-Reporter schreibt später von einem „meisterlichen Überholvorgang“.
Rosemeyer geht vorbei. Er führt.
Ein Mechaniker von Auto Union sagt später: „In dem Augenblick wusste man, dass er jetzt fahren würde, wie nur er es konnte.“
Doch kaum hat er die Spitze übernommen, passiert etwas, das kein Ingenieur einplanen kann: Aus den Wäldern steigt Nebel auf. Zuerst dünn, dann schlagartig dichter. Die Luft wird bleich, die Bäume verschwinden. Auf manchen Streckenabschnitten sinkt die Sicht auf unter 50 Meter.
Die meisten Fahrer reagieren instinktiv: Fuß etwas vom Gas, frühere Bremspunkte, mehr Vorsicht.
Nur Rosemeyer nicht.
Er hält das Tempo – und steigert es sogar.
Die Rundenzeiten der Konkurrenz brechen ein.
Die Rosemeyers bleiben erstaunlich konstant – teils sogar schneller als im Regenteil zuvor.
Später wird man sagen, dass er eine Art „inneres Bild“ der Strecke hatte. Er selbst formuliert es schlicht: „Ich wusste, wo ich hinmusste.“
Ein Sportwart an der Hohen Acht sagt: „Ich hörte ihn kommen, aber sehen konnte ich nichts. Dann tauchte der Wagen plötzlich aus dem Weiß auf – und war schon wieder fort.“
Runde sieben bringt bereits einen Vorsprung von rund 15 Sekunden.
Runde acht: fast eine Minute.
Runde neun: über eine Minute – während die Konkurrenz mit Nebel, Nässe, rutschenden Wagen und eigenen Fehlern kämpft.
Hinter Rosemeyer zerfleddert das Feld: von Brauchitsch rutscht von der Straße und kann nicht mehr weiterfahren. Lang dreht sich mehrfach, Zuschauer helfen ihm zurück auf die Bahn. Brivio und Farina kämpfen tapfer im Alfa, verlieren aber Runde um Runde Boden. Stuck, Varzi und von Delius liegen deutlich zurück.
Nur Nuvolari bleibt halbwegs in Reichweite – doch auch er muss im Nebel vorsichtig fahren.
Auf der letzten Runde beginnt der Nebel langsam aufzureißen.
Die Döttinger Höhe wird wieder sichtbar.
Ein paar Zuschauer wagen sich vor, als hörten sie etwas.
Dann erscheint er.
Ein einzelner silberner Wagen, die Startnummer klar zu erkennen, der Motor im tiefen Ton eines bis an die Grenzen der Physik ausgedrehten V16.
Rosemeyer schießt aus dem Nebel – und überquert die Ziellinie.
1:56:41,2 Stunden.
Durchschnitt: rund 117 km/h – im Regen, im Nebel, auf einer der gefährlichsten Strecken der Welt.
Nuvolari kommt gut zwei Minuten später.
Dann Brivio, weitere knapp drei Minuten dahinter.
Farina folgt.
Lang und Chiron retten Mercedes auf die Plätze fünf und sechs.
Die übrigen Wagen trudeln ein – manche sichtlich gezeichnet.
Ein Journalist schreibt in sein Notizbuch: „Es war nicht nur ein Sieg, es war eine Vorstellung.“
Die Presse des nächsten Tages überschlägt sich. Manche sprechen vom „Nebelmeister“, andere vom „Mann, der die Nordschleife im Dunkel sah“. Der Auto Union Typ C wird als technische Offenbarung gefeiert, aber alle wissen: Die Maschine allein konnte das nicht.
Was bleibt, ist das Bild eines jungen Mannes, der an einem verregneten Abend die wohl schwierigste Strecke Europas beherrschte, als hätte er sie im Kopf gespeichert.
Ein Fahrer, der im Nebel schneller war als im Regen. Ein Mensch, der etwas tat, was kaum ein anderer gewagt hätte.
An diesem Abend wird aus Bernd Rosemeyer ein Mythos.
Und die Nordschleife – sonst ein prüfender, kalter Richter – gibt ihm ihr seltenes Geschenk:
Sie lässt ihn in ihrem Weiß verschwinden und triumphierend wieder auftauchen.

The Italian Job
Wie Bernd Rosemeyer in Livorno zum Vollprofi reifte – als Podcast und im kurzen Video:
