Die Rosemeyers

Der erste Sieg – und ein Tag, der alles ändert
28.2.23, 22:00
Auf den schnellen Landstraßen von Brünn landet Rosemeyer seinen ersten Sieg – und findet seine große Liebe.
Die Sonne steht klar über den Hügeln von Mähren, als sich Zehntausende entlang der Landstraßen drängen. Kein gewöhnlicher Grand Prix – Brünn ist ein Volksfest, ein Ereignis, ein Theater der Geschwindigkeit. Und doch ahnt niemand, dass an diesem Vormittag im Jahre 1935 ein junger Mann zum ersten Mal in die vorderste Reihe der Motorsportgeschichte treten wird.
Die Experten rechnen mit Hans Stuck. Manche mit Varzi. Die hartgesottenen Alfisti hoffen auf Nuvolari. Aber der Name Bernd Rosemeyer? Den hat kaum jemand auf dem Zettel.
Noch nicht.
Der Kurs, der Helden frisst
Der alte Masaryk-Ring ist kein Rennplatz im üblichen Sinne – er ist ein Epos aus Asphalt und Staub. 29 Kilometer durch Wälder, Dörfer, über Kuppen, durch Mulden. Straßen, die eigentlich für Pferdefuhrwerke gedacht sind, nicht für 375 PS-Geschosse, die mit über 300 Sachen darüberdonnern.
Über den Winter wurden Teile neu betoniert, die Kurven geglättet, die Dörfer präpariert. Das bedeutet: Die Strecke ist schneller geworden. Viel schneller. Und sie verlangt mehr Mut als jeder andere Kurs der Saison.
Rosemeyer kennt den Ring nicht. Er ist erst seit Monaten im Auto-Union-Werksteam. Ein Ex-Motorradrennfahrer, ein Naturtalent, sagen die alten Hasen. Einer, der keine Angst kennt, sagen die Mechaniker.
Man wird sehen.
Start: Drei Silberpfeile schießen davon
10:30 Uhr. Die Flagge fällt. Und sofort preschen die drei Auto-Union-V16 nach vorn, als seien sie mit einem Gummiband losgeschossen worden: Stuck, Varzi, dahinter der Rookie Rosemeyer.
Es dauert nur Minuten, bis das Rennen die erste dramatische Wendung nimmt. Im Bereich Ostrovačice attackiert Varzi seinen Teamkollegen Stuck und übernimmt die Spitze. Es ist ein Machtwort: Heute will Varzi gewinnen. Und er fährt, als täte er es mit Wut.
Hinter ihm: Stuck und Rosemeyer. Drei Silberpfeile in Formation, dahinter die roten Alfa Romeos mit Nuvolari, Chiron und Brivio. Die ersten Kilometer zeigen: Das wird ein Tag für die ganz Großen des Sports.
Stucks Unglück – ein Vogel entscheidet mit
Runde drei. Eine Szene, wie sie nur der alte Straßenrennsport kennt. Ein Vogel – niemand weiß genau, welcher – streift knapp über die Straße. Er prallt in Stucks Gesicht, zertrümmert die Schutzbrille und schleudert Splitter in sein Auge. Stuck verlangsamt, taumelt fast, rettet den V16 aber mit Erfahrung und Instinkt an die Box.
Der „Bergkönig“ ist angeschlagen. Und damit liegt alle Last plötzlich auf Varzi und… dem Neuling.
Varzis Orkanrunde – und der entscheidende Knacks
In der vierten Runde setzt Varzi ein Zeichen für die Geschichtsbücher: eine Runde in 12:37 Minuten – schneller als die Zeitentabelle des Veranstalters überhaupt vorsieht. 138,6 km/h im Schnitt, auf öffentlichen Straßen, ohne Leitplanken. Ein Rekord wie ein Donnerschlag.
Doch Rekorde zerreißen Material. Und Varzis Attacke ist nicht nachhaltig. Der Typ-B-V16 ist schnell, aber empfindlich, und Varzi treibt ihn ans Limit – und darüber hinaus.
Runde 12: Der Silberpfeil beginnt zu stottern. Geräusche aus dem Getriebe. Ein Nachlassen der Kraft. Varzi schleppt sich zur Box – und steigt aus. Ausfall. Getriebe.
Die Zuschauer raunen. Die Alfa-Mechaniker wittern Blut. Und ein junger Mann sitzt plötzlich auf der größten Chance seines Lebens.
Bernd Rosemeyer übernimmt die Führung.
Er fährt nicht wie ein Neuling. Er fährt wie ein Mann, der jede Kurve seit Jahren kennt. Wie einer, der nicht den Mut, sondern die Instinkte eines Motorradfahrers in sich trägt. Er lässt das schwere, hecklastige Auto tanzen, wo andere dagegen ankämpfen. Der Kurs liegt ihm, die Bedingungen liegen ihm, der Tag liegt ihm.
Und während hinter ihm Nuvolari versucht, den Druck aufrechtzuerhalten, hält Rosemeyer die Linie, das Tempo, die Nerven.
Jeder Kilometer bringt ihn der Sensation näher.
Nuvolari liegt lange sicher auf Rang zwei, bis ihn die Technik einholt. Der Alfa braucht Wasser – ein Stopp, den er unbedingt fürchtet. Der Mantovaner gibt das Signal, die Mechaniker arbeiten fieberhaft, aber die verlorene Zeit ist da.
Louis Chiron riecht die Chance. Er fährt wie im Rausch, jagt den Teamkollegen mit einer Präzision, die dem eleganten Monegassen selten zugeschrieben wird. Runde um Runde frisst er Sekunden.
Als sie beide in die letzte Runde gehen, trennen sie nur noch zwölf Sekunden. Am Ende sind es vier Sekunden, die Nuvolari vor Chiron ins Ziel rettet. Ein Kampf, der das Publikum von den Hängen reißt.
Doch vorne, weit vorne, fährt einer einem Traum entgegen.
Drei Stunden, 44 Minuten und 10,6 Sekunden nach dem Start reißt Bernd Rosemeyer die Arme hoch.
Er hat den Masaryk-Grand-Prix gewonnen. Sein erstes großes Rundstreckenrennen. Sein erster großer Sieg im Auto. Sein Eintritt in die Weltelite des Motorsports.
Die Auto Union-Mechaniker reißen ihn aus dem Cockpit. Das Publikum jubelt, als sei ein Nationalheld geboren. Und irgendwo im Fahrerlager steht eine junge Fliegerin, Elly Beinhorn, die aus Höflichkeit gekommen ist – und nun Zeugin eines Aufstiegs wird, der bald auch ihr Leben verändern wird.
Ein paar Stunden später wird sie ihm gratulieren. Wenige Monate später wird sie ihn heiraten.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Brünn 1935 war mehr als ein Grand Prix. Es war die Geburtsstunde eines Mythos.
Der Tag, an dem ein Ex-Motorradfahrer die etablierten Stars herausforderte.
Der Tag, an dem Auto Union zeigte, dass der V16-Mittelmotor nicht nur eine technische, sondern eine fahrerische Waffe war.
Der Tag, an dem der alte Masaryk-Ring seine gefährliche Schönheit offenbarte.
Und der Tag, an dem ein junger Mann aus Lingen das Herz der Rennwelt eroberte.
Bernd Rosemeyer hat viele Siege errungen, viele Rekorde gebrochen. Aber nie wieder fuhr er freier, wilder, unbekümmerter als an jenem Morgen in Mähren.
Brünn ist der Moment, in dem die Welt begreift, dass ein neuer Stern geboren war. Und der Augenblick, in dem sich ein neues deutsches Traumpaar findet. Denn bei der Siegerehrung treffen sich die Blicke von Sieger Rosemeyer und der als Ehrengast geladenen Fliegerin Elly Beinhorn. Um Rosemeyer ist es noch unterm Lorbeerkranz geschehen – und wenig später sind der draufgängerische Rennfahrer und die nicht minder unerschrockene Rekordfliegerin ein Paar.

The Italian Job
Wie Bernd Rosemeyer in Livorno zum Vollprofi reifte – als Podcast und im kurzen Video:
