Die Rosemeyers
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Der Unbekannte stellt sich vor
28.2.23, 22:00
Seinen ersten Grand Prix-Start hat Bernd Rosemeyer sich erquengelt. Er währt nur kurz – aber hallt um so länger nach.
Früher Morgen im Grunewald. Die Luft riecht nach Kiefer und Maschinenöl, als sich entlang der schnurgeraden Betonbahnen der Automobil-Verkehrs- und -Übungsstraße, kurz Avus, die Mechaniker der Silberpfeil-Teams auf den Tag einstimmen. Noch hängen Nebelfetzen über der Nordkurve, aber die Tribünen füllen sich – 200.000 Zuschauer wollen die schnellsten Rennwagen der Welt sehen. Mercedes, Auto Union, Alfa Romeo. Und einen Mann, den hier niemand kennt: Bernd Rosemeyer, 25, bisher Motorradfahrer.
Was vor Ort kaum jemand weiß: Eigentlich sollte er heute gar nicht fahren.
In den Tagen vor dem Rennen herrscht in der Rennabteilung der Auto Union gereizte Betriebsamkeit. Die AVUS gilt als die gefährlichste Versuchsstrecke Europas – zwei endlose Geraden, zwischen denen die Wagen auf weit über 300 km/h schießen, gebremst nur von zwei langgezogenen Kurven. Und mitten in diesem Hochgeschwindigkeitsspiel will einer hinein, der auf vier Rädern so gut wie keine Erfahrung hat.
Willy Walb, Renndirektor der Auto Union, erlebt in jener Woche eine Art persönliches Belagerungsszenario. Ein junger Mann mit wachen grauen Augen taucht jeden Tag in seinem Büro auf. Setzt sich auf den Besucherstuhl. Lächelt freundlich und fragt: „Herr Walb, darf ich auf der AVUS fahren?“
Walb lehnt ab. Zu gefährlich. Zu schnell. Und vor allem: zu riskant, ein blutiges Debüt ausgerechnet hier. Doch der junge Mann gibt nicht auf. Als Walb eines Morgens seinen Schreibtischkalender aufschlägt, steht dort mit krakeliger Handschrift: „Wird Rosemeyer auf der Avus fahren?“
Am nächsten Tag steht der Satz wieder da. Und am übernächsten. Und am dritten. Rosemeyer führt eine Ein-Mann-Offensive durch – leise, hartnäckig, entwaffnend.
Irgendwann knallt Walb den Kalender zu, funkelt den Jungen an – und sagt mit einem tiefen Seufzer: „Meinetwegen. Du fährst.“
Rosemeyer grinst. Der Weg auf die schnellste Rennstrecke der Welt ist frei.
In der Boxengasse steht sein Arbeitsgerät: eine stromlinienverkleidete Auto Union-„Rennlimousine“, ein metallischer Tropfen, glatt wie ein Kiesel. Dach, verkleidete Räder, ein langer Rücken – ein Exot unter den offenen Silberpfeilen. Unter dem silbernen Panzer schlägt ein V16-Kompressormotor, je nach Ausbaustufe zwischen knapp 300 und über 370 PS stark, montiert vor der Hinterachse, wie es die Auto Union so radikal anders macht als Mercedes.
Solche Autos tragen sonst Rekordfahrer in aerodynamische Lesungen des Wahns. Nun sitzt darin ein Rookie. Erst seit ein paar Monaten hat er sein Motorrad gegen vier Räder getauscht – seine steile Lernkurve begann im Herbst ’34, als er auf dem Nürburgring die Nachwuchsprüfung „mit Bravour“ besteht.
Jetzt soll er an einem Sonntag im Mai unter Beweis stellen, dass er mehr kann, als nur Mut zu haben.
Im Training tanzen die schweren Silberpfeile über die Betonplatten. Mercedes schickt seine Elite: Fagioli, Caracciola, von Brauchitsch. Die Scuderia Ferrari bringt die monströsen Alfa Romeo Bimotore 16C, zwei Motoren, zusammen rund 540 PS – gefahren von Chiron und Nuvolari.
Und mittendrin dieser Unbekannte aus Lingen.
Als Rosemeyer aus der Südkehre schießt, ahnt niemand, was passiert. Der silberne Torpedo pfeift über die Gerade wie ein Geschoss. Die Chronometristen schauen erst auf die Uhren, dann aufeinander. Ungläubig. Noch einmal. Und noch einmal.
Am Ende des Trainings steht fest: Rosemeyer fährt sich in die erste Startreihe.
Neben Hans Stuck, der als „Bergkönig“ längst Legende ist. Neben Fagioli im Mercedes. Neben Nuvolari im Bimotore.
Es ist, als hätte ein junger Rehbock beschlossen, sich mitten in ein Rudel Wölfe zu legen.
Vorlauf 1, fünf Runden, knapp 98 Kilometer.
Rosemeyer steht in der ersten Reihe, Wagen Nummer 4. Die Zuschauer fächeln sich mit Programmen Luft zu, die Motoren wippen im Standgas. Auf der Tribüne herrscht dieses besondere Schweigen, das immer kurz vor sehr viel Lärm entsteht.
Dann hebt der Starter die Fahne: Gas. Staub. Silber.
Der Stromlinienwagen katapultiert sich nach vorn. Die V16 schreien auf den Geraden, die Nadel pendelt in Hochgeschwindigkeitsbereichen, die nur die mutigsten Piloten erreichen. Rosemeyer hält mit den Stars Schritt, zeigt keinerlei Scheu. Die Presse sollte später sagen: „Er fährt, als hätte er nie etwas anderes getan.“
Doch das Schicksal der Avus schlägt zu.
In Runde drei blinkt plötzlich ein silberner Splitterregen hinter dem Auto. Rosemeyer spürt ein hartes Rucken. Der Wagen beginnt zu tänzeln. Ein Reifenprotektor hat sich gelöst, dann der ganze Reifen – der schlimmste Alptraum auf dieser Strecke, wo die Wagen minutenlang im fünften Gang verharren.
Wer hier einen Reifen verliert, kämpft nicht um Sekunden – sondern ums Überleben.
Rosemeyer bringt die Rennlimousine unter Kontrolle, rollt aus. Schluss. Ausfall im Vorlauf. Der Traum vom Finale ist vorbei, bevor er richtig begonnen hat.
Während die Mercedes im Finale um den Sieg streiten – Fagioli gewinnt vor Chiron und Varzi –, sitzt Rosemeyer bereits in der Auto-Union-Box, die Rennhaube halb offen, das Gesicht ruhig, fast entspannt.
Es ist, als würde er denken: „Ich habe gezeigt, was ich kann. Jetzt wissen sie es.“
In den Zeitungen wird am nächsten Tag vor allem über die Rekordgeschwindigkeiten berichtet, über Reifenplatzer bei Stuck und Varzi, über Chiron ohne Boxenstopp, über Fagiolis taktischen Sieg.
Doch hinter den Kulissen spricht das Fahrerlager über etwas anderes.
Über diesen jungen Mann, der aus dem Nichts kam.
Der auf der gefährlichsten Rennstrecke der Welt ohne jede Erfahrung eine Trainingszeit gesetzt hat, für die andere Jahre brauchen.
Der ohne Angst in eine stromlinienverkleidete Rakete steigt und sie bei über 300 km/h beherrscht.
Der im ersten Anlauf die erste Reihe erobert.
Ein Rookie, der nach nur drei Runden ausscheidet – und dennoch alle beeindruckt.
Von hier an geht es schnell. Beim Eifelrennen fährt er kurz darauf auf Platz zwei hinter Caracciola. In Brünn gewinnt er seinen ersten Grand Prix. 1936 wird er Europameister. Deutschland hat einen neuen Helden – jung, kühn, halsbrecherisch.
Und alles beginnt mit einem Zettel in einem Schreibtischkalender.
Mit einer Trotzreaktion eines jungen Mannes, der nicht fragen will, ob er fahren darf, sondern zeigen will, dass er es kann.
Bernd Rosemeyer betritt an diesem Maitag 1935 die Bühne des Motorsports – nicht mit einem Sieg, sondern mit einem Versprechen:
Hier kommt einer, der die Gesetze der Geschwindigkeit neu schreiben wird.

The Italian Job
Wie Bernd Rosemeyer in Livorno zum Vollprofi reifte – als Podcast und im kurzen Video:
