Die Rosemeyers

Die Liebe ist ein seltsames Ziel
28.2.23, 22:00
In Livorno werden Bernd Rosemeyer die Augen geöffnet: Er lernt, sich im Cockpit aufs Wesentliche zu konzentrieren.
Wenn man heute die sonnenflirrende Küstenstraße südlich von Livorno entlangfährt, ahnt man kaum, dass genau hier, zwischen Pinien, Mauern und dem gleißenden Licht des Tyrrhenischen Meeres, eines der großen Dramen der Vorkriegs-Grand Prix-Geschichte stattfand. Ein Drama, dessen Protagonist der vielleicht faszinierendste Rennfahrer seiner Zeit war: Bernd Rosemeyer – Draufgänger, Instinktfahrer, Idol und Enigma.
Die beiden Rennen, die Rosemeyer 1936 und 1937 auf dem Circuito di Montenero bestreitet, markieren zwei völlig unterschiedliche Kapitel seiner Laufbahn. Zusammen gelesen ergeben sie eine Geschichte über politische Symbolik, technische Extreme, menschliche Verwundbarkeit – und darüber, wie sehr ein Rennfahrer nur dann wirklich greifbar wird, wenn er scheitert.
Der Circuito di Montenero ist alles andere als ein normaler Rennkurs. Ursprünglich ein über 20 Kilometer langer Straßenkurs, der von der Küste in die Hügel von Castellaccio und Montenero führt, wurde er Mitte der 1930er Jahre auf 7,2 Kilometer verkürzt – aber nicht gezähmt. Er ist gleichzeitig schnell und verwinkelt, brutal eng und landschaftlich schön, ein Amphitheater aus Mauerwerk, unruhigem Asphalt und Meereswind.
Start und Ziel liegen an der Rotonda d’Ardenza, direkt am Wasser. Von dort führt der Kurs durch schmale, dicht bebaute Straßen, hinaus nach Antignano und wieder zurück entlang der Via del Littorale – damals eine offene, schnelle Küstenstraße, heute gesäumt von Badeanstalten.
Dieser Kurs stellt besondere Anforderungen: Wer hier gewinnen wollte, braucht Mut und Nerven aus Stahl, aber auch die Fähigkeit, ein brachiales Grand Prix-Monster auf Zentimeter genau zwischen Laternenpfählen und Hauswänden zu platzieren. Keine Auslaufzonen, keine Kompromisse. Montenero ist der Vorkriegsmotorsport in seiner reinsten, gefährlichsten und brachialsten Form.
Es ist ein Kurs, der Charakter enthüllt. Und selten tut er das deutlicher als bei Bernd Rosemeyer.
Am 2. August 1936 betritt Rosemeyer erstmals die Bühne von Livorno. Er kommt als Überflieger der Saison – jung, furchtlos, von Auto Union in einen V16-Heckmotor-Silberpfeil gesetzt, der ihm perfekt liegt. Er istder Mann, der die etablierten Giganten wie Caracciola und Varzi um ihren Schlaf bringt. Ein Naturtalent, das kaum etwas zu fürchten scheint.
Doch Livorno soll ihm das Gegenteil beweisen.
Die sportliche Ausgangslage ist eigentlich rosig. Auto Union reist mit drei Topfahrern an: Achille Varzi, Hans Stuck – und eben Rosemeyer. Der Wagen, der berühmte Typ C, war ein 520-PS-V16, der den Italienern respektvoll Angst einjagt. Varzi, Lokalmatador und Nationalheld, hat eine Rechnung offen. Und Rosemeyer ist in überragender Form.
Aber die Realität ist eine andere.
Rosemeyers Frau, die berühmte Fliegerin Elly Beinhorn, ist zeitgleich auf einem ihrer Fernflüge unterwegs. Er macht sich Sorgen. Große Sorgen. Und das ist der eine Gegner, den selbst er nicht kontrollieren kann.
Er wirkt nervös, fahrig, abgelenkt. Ein Mann, der körperlich anwesend ist geistig aber ständig über irgendeinem Ozean schwebt – dort, wo seine Frau gerade im Flugzeug sitzt.
Rosemeyer fährt an, aber er fährt nicht wie er selbst. Nach sechs Runden stellt er das Auto ab. Kein spektakulärer Motorschaden, keine Heldengeschichte. Nur ein Mann, der sagt: „Es geht heute nicht.“
Hans Stuck übernimmt später sein Auto – damals erlaubt und sogar üblich. Das allein zeigt schon, wie wenig Rosemeyer in Livorno präsent ist.
Tazio Nuvolari, die kleine italienische Naturgewalt, schlägt die übermächtigen deutschen Silberpfeile – erst auf seinem Wagen, dann auf dem Ersatzwagen eines Teamkollegen.
Die Mischung aus Verzweiflung, Wut und Genie, mit der Nuvolari dieses Rennen dreht, schreibt Geschichte. Italien tobt. Deutschland ist schockiert. Und Bernd Rosemeyer? Er ist Statist in einer Inszenierung, die andere groß machte.
Ein Jahr später kehrt Rosemeyer nach Livorno zurück – in einem ganz anderen Licht.
Der Große Preis von Italien 1937 ist nach Livorno verlegt worden, weil Mussolinis Sportfunktionäre hofften, auf dem Montenero-Kurs den deutschen Dominatoren etwas entgegensetzen zu können. Ein Rennwagen wie der Mercedes W125 ist inMonza praktisch unschlagbar. Auf Livornos engen Straßen sieht man eine Chance für die eigenen Marken. Diese Entscheidung ist ein direktes Echo des Nuvolari-Triumphs von 1936. Und damit ist der Grand Prix 1937 – politisch wie sportlich – ein bewusstes Rückspiel.
Die erste Startreihe ist ein Tableau des damaligen Rennsport-Olymps: Rudi Caracciola im Mercedes, auf Pole. Daneben Achille Varzi und Bernd Rosemeyer in ihren Auto Union. Rosemeyer bleibt lediglich die dritte Position, aber nur wenige Zehntel hinter Varzi.
Ein Jahr nach seiner Demütigung steht er wieder vorne. Wieder selbstbewusst. Wieder fokussiert.
Der Grand Prix entwickelt sich zu einem internen Duell bei Mercedes:
Caracciola gegen Lang, zwei Giganten, die trotz Teamorder um den Sieg kämpften. Die Fahrweise ist hart, manchmal wild, und Teamchef Neubauer soll zeitweise fast explodiert sein.
Rosemeyer dagegen fährt ein Rennen, das man von ihm nicht unbedingt kannte: präzise, kontrolliert, beinahe diszipliniert. Er lässt die beiden Mercedes ziehen, ohne sich in ein aussichtsloses Duell zu verbrennen. Gleichzeitig hält er die Konkurrenz – unter anderem Seaman, Müller, die Alfas – souverän auf Abstand.
Caracciola gewinnt am Ende mit vier Zehnteln Vorsprung auf Lang – einer der knappsten Silberpfeil-Siege überhaupt. Rosemeyer wird Dritter, mehr als zwei Minuten zurück, aber über eine Runde vor dem Rest.
Das ist kein epischer Heldensieg. Kein Nuvolari-Moment. Kein Caracciola-Monument.
Aber es ist ein Rennen, das zeigt, wie komplett Rosemeyer als Fahrer war.
Erst in Livorno sieht man beides: 1936 das zerbrechliche Genie und 1937 den abgeklärten Strategen. Livorno ist ein Spiegel. Und darin zeigte sich Bernd Rosemeyer in zwei völlig verschiedenen Facetten.
1936 – der Mensch im Rennfahrer: Ein Fahrer, der nicht unverwundbar ist, der von Sorgen gezeichnet ist, der Fehler macht, der untergeht. Und 1937 – der Profi im Genie: Ein Fahrer, der rational fährt, der um Positionen kämpft statt um Mythen,
der sich seinen Dämonen stellt, der reift.
Diese beiden Rennen sind weit mehr als Fußnoten der Vorkriegsära. Sie sind ein Schlüssel zum Verständnis eines Mannes, der in nur wenigen Jahren so viel Mythos erzeugte wie andere in Jahrzehnten.
Nur vier Monate nach seinem Podium von Livorno stirbt Bernd Rosemeyer am 28. Januar 1938 bei einem Rekordversuch auf der Autobahn Frankfurt–Darmstadt. Er ist 28 Jahre alt.
In der Rückschau wirkt Livorno wie ein dramatischer Doppelpunkt in seinem Leben:
1936 – er brennt aus und zeigt Menschlichkeit.
1937 – er kontrolliert das Feuer und zeigt Größe.
1938 – er verbrennt an einer Geschwindigkeit, die kein Mensch damals beherrschen konnte.
Livorno erzählt also nicht ein Rennen. Livorno erzählt von zwei Seelen: die des tollkühnen, ungestümen Naturtalents. Und die des reflektierten, gereiften Grand-Prix-Meisters, der verstehen musste, dass selbst das größte Talent nur dann überlebt, wenn es seine Grenzen akzeptiert.
Bernd Rosemeyers Auftritte in Livorno sind ein seltener Blick hinter die Fassade eines Mannes, der viel zu früh zum Mythos wurde. Sie zeigen die Spannweite menschlicher Erfahrung – Angst, Sorge, Versagen, Wiedergutmachung, Souveränität.
Und sie offenbaren, warum Rosemeyer mehr war als ein Rennfahrer: Er war eine Projektionsfläche für das Menschliche im Übermenschlichen.
Wer verstehen will, warum dieser Mann bis heute ein Faszinosum bleibt, der muss nicht nur auf seine Siege auf dem Nürburgring oder in Pescara schauen. Er muss auch nach Livorno blicken. Dorthin, wo er einmal scheiterte – und ein Jahr später daran wuchs.

The Italian Job
Wie Bernd Rosemeyer in Livorno zum Vollprofi reifte – als Podcast und im kurzen Video:
